Das Schattenbuch
Geltung brachte. Doch trotz seines
überwältigenden und dabei so zurückhaltenden
Auftritts haftete ihm etwas Einsames an. Er war ein wenig
älter als Lioba, und sie musste zugeben, dass er ein
schöner Mann war. Entfernt erinnerte er sie an einen
ergrauten Pierce Brosnan, aber er besaß nicht jenen Zug der
Selbstironie. Seine Sammelleidenschaft hatte etwas Zwanghaftes,
Getriebenes. Und etwas Unheimliches.
Zu Hause suchte sie die Adresse und fuhr los. Abraham Sauer
wohnte neben dem Amphitheater. Unter all den Villen in diesem
Stadtteil war seine die größte. Lioba parkte ihren
Renault ein paar Straßen weiter und ging durch den lauen
Sommerabend zurück zu Sauers Haus, das von einer hohen,
abweisenden Mauer umgeben war. Lange stand sie vor der Auffahrt
und überlegte, ob sie wirklich mit ihm reden wollte. Bei
seinem letzten Besuch hatte er auf eine ihr unbekannte Weise
erfahren, dass sie ein nicht besonders altes, aber sagenhaft
seltenes Sechstes und Siebtes Buchs Mosis, gedruckt um 1900 in
Radnitz an der Elbe, angekauft hatte, von dem lediglich zwei
Exemplare bekannt waren. Es handelte sich um ein broschiertes
Folio von nur vierundvierzig lithographierten Seiten mit allerlei
Dämonenbeschwörungen. Sauer hatte sich verhalten, als
sei ihm dieses Buch das wertvollste, das er je erweben konnte. Er
hatte ihr bei dieser Gelegenheit erzählt, er suche nach
jenem letzten Werk, das ihm die Geheimnisse der Welt
erschließe. Wie in Borges’ Bibliothek von Babel,
hatte Lioba gedacht. Als er gegangen war, schwebte noch etwas von
ihm im Haus. Es hatte wieder einmal Tage gedauert, bis seine
Gegenwart so weit aufgelöst war, dass Lioba sie nicht mehr
wahrnahm.
Das große, moderne Haus mit der riesigen Garage daneben
wirkte völlig unpassend als Heim für eine der
größten Okkult-Bibliotheken Europas. Die hohen
Bäume, die es umgaben, atmeten zwar einen Hauch von
Geheimnis, doch sie waren wie ehrwürdige Ahnen, die auf
einen frechen Emporkömmling herabschauten. Die Nähe des
römischen Amphitheaters verstärkte diese Empfindung
noch. Doch rätselhafter als die Bibliothek und das Haus war
dessen geheimnisvoller Bewohner.
Lioba holte tief Luft und schritt die steile Auffahrt
hoch.
10. Kapitel
Ein recht junger, glatt rasierter Mann in einem dunklen Anzug
öffnete ihr. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er nicht
der Hausherr war. »Sie wünschen?«, fragte er mit
einer Mischung aus Freundlichkeit und Abweisung.
»Ich möchte Herrn Sauer sprechen.«
»Sind Sie angemeldet?« Er trat einen Schritt vor
und machte sich breiter.
»Nein.«
»Wen darf ich melden?«
Lioba nannte ihren Namen. Der junge Mann schloss die Tür
wortlos und ließ sie draußen stehen.
Kein guter Stil, befand sie, doch es blieb ihr nichts anderes
übrig, als zu warten. Sie schaute an der glatten, grauen
Fassade hoch. Es war ein Haus der Postmoderne, klar gegliedert
und doch mit unerwarteten Vorsprüngen und Winkeln und einem
recht flachen, nach hinten abfallenden Dach, und es zeigte schon
leise Spuren von Verfall. Ob es Abraham Sauer finanziell nicht
mehr so gut ging? Hier und da machten sich Flecken auf dem
Verputz breit, ein Fensterladen fehlte, an einem anderen
blätterte die Farbe ab. Hohe, im leichten Wind schwankende
Pappeln und Linden zu beiden Seiten warfen Schatten auf das
Haus.
Das Portal, das aus zwei polierten Flügeln mit
Messingbeschlägen bestand, wurde wieder geöffnet.
»Herr Sauer lässt bitten«, sagte der junge Mann
und trat beiseite.
Lioba schritt an ihm vorbei in die Düsterkeit einer
großen Halle. Hinter ihr wurde das Portal geräuschlos
geschlossen.
Lioba schaute sich um. In diese Halle hätte ein mittleres
Einfamilienhaus gepasst. Eine große Freitreppe gabelte sich
auf halber Höhe und führte an den Wänden weiter
nach oben. Von der Decke hing an einer schweren Kette ein
riesiger Kronleuchter, dessen geschliffenes Glas auch die letzten
Reste von Licht einfing und glitzernd auf den Steinboden warf,
der mit abstrakten Mosaiken ausgelegt war.
»Bitte hier entlang«, drang die Stimme des jungen
Mannes aus dem Dämmer rechts von ihr. Er öffnete eine
hohe, schmale Tür, die in die Bibliothek zu führen
schien. Liobas Herz schlug höher. Sie trat auf die Schwelle
des großen, hohen Raumes. Der junge Mann machte keine
Anstalten, sie zu führen. »Bitte durchqueren Sie
dieses Zimmer und gehen Sie auf dem Weg weiter, der sich Ihnen
zeigen wird. Herr
Weitere Kostenlose Bücher