Das Schattenbuch
wie Gerhard Spenster. Es
gehört kein großer Scharfsinn dazu, daraus Gespenst
oder Gespenster zu lesen.«
»Was passiert Ihrer Meinung nach, wenn ich dieses Buch
mitnehme und lese?«, fragte Lioba mit zitternder
Stimme.
»Nichts. Es ist mein Buch.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß es einfach. Sagen wir so: Die Gefahr
für mich ist außerordentlich groß, vor allem,
wenn man bedenkt, unter welchen Umständen es in meinen
Besitz gekommen ist. Und schon der Hinweis auf die Spiegel
genügt, um mir Sicherheit zu verschaffen. Da ich es noch
nicht gelesen habe, hoffe ich, ihm zu entkommen. Sie können
sich nicht vorstellen, welche Kraft es kostet, den Verlockungen
dieses Buches zu widerstehen.«
»Warum vernichten Sie es nicht?«
»So etwas wurde schon einmal versucht. Athanasius
Pernath, ein Weiser aus dem Prager Ghetto, hat im neunzehnten
Jahrhundert ein Buch zu verbrennen versucht und ist dabei
umgekommen. Vorher hatte er seine Gründe für die Tat
dem Schriftsteller Gustav Meyrink mitgeteilt. Soll ich Ihnen den
Brief zeigen?«
Lioba schüttelte den Kopf.
Sauer redete weiter; es schien, als wolle er seine Seele vor
Lioba erleichtern – zumindest ein wenig. »Es
heißt, ein Branddämon habe ihn erfasst, als er das
Streichholz an das Buch hielt. Es hieß übrigens Das
Buch der Schatten und stammte angeblich von einem Autor
namens Johannes Silentius. Unnötig zu sagen, dass auch das
ein Pseudonym war. Aus diesem Grunde wäre es mir lieb, wenn
Sie das Buch mitnähmen. Geben Sie es mir bloß nie
wieder zurück. Sie können es gefahrlos vernichten. Sie
können es sogar lesen, denn Ihnen bedeutet es nichts. Seien
Sie froh, dass Sie Ihr Exemplar verkauft haben.«
»Sind Sie sicher, dass es wirklich mein Exemplar
war?«
»Wie haben Sie es bekommen?«
Lioba erzählte, wie es vor ihrer Tür gelegen hatte,
verborgen unter den anderen Büchern.
Sauer lächelte wehmütig. »Ein Kuckucksei. Ein
trojanisches Pferd. Ja, das war das Ihre. Sie sind gerettet. Oder
haben Sie es etwa gelesen?«
Lioba wurde schwindlig. Sie schüttelte den Kopf. Arved
hingegen schien das Buch bereits auswendig zu kennen. Aber es war
nicht seines. Oder? »Wie entscheidet sich, ob man nach der
Lektüre überlebt oder nicht?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht, aber ich habe einige
Vermutungen. Alle Opfer hatten einen oder mehrere dunkle Hecken
in ihrer Vergangenheit. Vielleicht reicht es aus, zu beichten,
wie manche es getan haben. Cagliostro hat überlebt, wie ich
vorhin darlegte. Vielleicht muss noch etwas Weiteres
hinzukommen.«
»Gibt es auch in Ihrem Leben einen dunklen
Punkt?«, wollte Lioba wissen. Erst als sie die Frage
gestellt hatte, erkannte sie, wie indiskret sie war.
Trotzdem gab Sauer Antwort, auch wenn er ein kleines
Lächeln nicht unterdrücken konnte. »Allerdings.
In wessen nicht?«
Lioba atmete auf. Selbst wenn es sich um Arveds Buch handeln
sollte, war er nicht in Gefahr. Was konnte es in seinem Leben
schon Schlimmes geben? Für seine Glaubenszweifel hatte er
hart gebüßt und war durch die Hölle gegangen. Er
konnte doch keiner Riege etwas zuleide tun. Sie stand auf und
drückte das Buch gegen ihre Brust.
»Sehe ich Sie wieder?«, fragte Abraham Sauer. In
seinem Blick lag etwas unerträglich Flehentliches.
»Ja, bestimmt«, sagte Lioba, weil sie nichts
anderes zu sagen wusste.
Der junge Mann stand hinter ihr. War er die ganze Zeit dort
gewesen? Er führte sie hinaus. Auf der Schwelle drehte sich
Lioba noch einmal um. Abraham Sauers Gesicht war eine
wächserne Maske, unter der das Feuer der Hoffnung glomm. So
sah ein Mensch aus, der sich Befreiung von seinen tiefsten Qualen
versprach.
Zu Hause begab sich Lioba sofort ins Badezimmer und verbrannte
das Buch im Waschbecken. Der schreckliche Brandgestank
verbreitete sich rasch im ganzen Haus. Als sie endlich zu Bett
ging, war es schon weit nach Mitternacht. Dennoch lag sie noch
lange wach und lauschte auf alle Geräusche ihres kleinen,
alten Hauses. Es ereignete sich nichts Ungewöhnliches. Nur
der Brandgeruch bedrückte sie. Bevor sie einschlief, dachte
sie über Abraham Sauer und seine wilde Geschichte nach. In
seiner Gegenwart hatte sie glaubhaft geklungen, doch jetzt, in
Liobas gewohnter Umgebung, erschien sie ihr doch ein wenig zu
phantastisch. War es Sauers Versuch, sich für Lioba
interessant zu machen? Wie lange war es her, dass sie Eindruck
auf einen Mann gemacht hatte? Arved, dachte sie, als
Weitere Kostenlose Bücher