Das Schattenbuch
wirklich wissen wollte. Warum war er hergefahren, warum
hatte er Schults Einladung überhaupt angenommen? Er wollte
nichts über Liobas Vergangenheit wissen, nichts über
die von Manfred Schult und auch nichts über seine eigene.
Wieder dachte er an das Phantom, das neben ihm im Wagen gesessen
und dann im Regen gestanden hatte. Als ob das Gewitter und die
Blitze einen Spalt geöffnet hätten. Heute ist der Tag
der Vergangenheit, Arved, sagte etwas in ihm.
Es dauerte kaum eine halbe Stunde, da hatte Schult die drei
Geschichten schon verschlungen. Er tauchte aus ihnen auf und sah
Arved fragend an, als wundere er sich darüber, dass er einen
Gast hatte.
»Sie lesen sehr schnell«, meinte Arved
erstaunt.
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie länger
dafür gebraucht haben«, gab Schult schnippisch
zurück und warf das Buch auf den Boden. Es durchfuhr Arved,
als er sah, wie der Band hinter einem fettigen Pappteller
aufschlug und eine halb volle Colaflasche daneben bedenklich zu
schaukeln begann. Doch die Flasche, die eigentlich hätte
umfallen müssen, schien sich wie aus eigener Kraft wieder zu
fangen und aus einem unmöglichen Winkel, der jeder
Gravitation spottete, aufzurichten. Es war, als habe sich das
Buch selbst gerettet.
»Hat es Ihnen gefallen?«, fragte Arved.
Manfred Schult schlug die Beine übereinander. Die Flecken
auf seiner Hose glänzten im Licht der wieder hinter den
Wolken hervorgekommenen Sonne. »Nicht sehr. Hab es nur
quergelesen, aber das reicht. Der Autor hat einen
kümmerlichen Stil. Schwülstig bis zum Erbrechen. Die
zweite Geschichte ist ganz lustig, die dritte allerdings
vorhersehbar. Und die erste ist Quatsch.«
»Dafür scheinen Sie aber ganz schön gefesselt
gewesen zu sein«, bemerkte Arved und sah Schult fest
an.
Schult erwiderte den Blick; ein gewisses Erstaunen darin war
nicht zu übersehen. Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Keineswegs. Aber ich habe Sie nicht herbestellt, um mit
Ihnen über dieses Buch zu reden. Ich wollte nur erst einmal
wissen, warum Lioba so scharf darauf ist, den Autor zu finden.
Ist das Buch sehr wertvoll?«
Arved zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht.« Mit
einem Lächeln fügte er hinzu: »Dann hätte
Lioba es mir wohl kaum geschenkt.«
Schult nickte; sein Grinsen war eindeutig bösartig.
»Allerdings. Sie verschenkt nie etwas. Als Sie mit ihr bei
mir waren, haben Sie ein völlig falsches Bild von mir
bekommen. Sie sind hier, damit ich es richtig stellen
kann.«
Der Biergeruch traf Arved wie eine Woge. Musste er sich jetzt
gemeine Geschichten über Lioba anhören? Am liebsten
würde er wieder gehen. Aber etwas hielt ihn zurück. Es
war der Wunsch, seine Bekannte besser kennen zu lernen, selbst
wenn er hier nur einen parteiischen Bericht hören
würde.
Schult lehnte sich auf seinem Sessel voller Wäsche
zurück und fuhr fort: »Sie war mein Untergang, das
können Sie mir glauben. Als ich sie kennen lernte, war sie
Lehrerin und ich bei der Schulaufsichtsbehörde. Ich war ganz
verrückt nach ihr. Sie ist ja immer noch eine Schönheit
– in gewisser Weise. Es war irre, sie zu heiraten.
Heiligmann ist übrigens ihr Mädchenname, den sie nach
der Scheidung wieder angenommen hat. Ja, damals im
Seminar… Damals war sie schon ziemlich abgedreht. Lehrerin
für Deutsch und Geschichte – ich habe es mir nie
vorstellen können. Damals hat sie gekifft. Hat dabei nicht
genug aufgepasst. Ihre Chefin hatte es mitbekommen, und Lioba
stand kurz vor der Suspendierung. Die Supervisionsveranstaltung
bei mir war für sie der letzte Versuch, ihr Berufsleben in
den Griff zu bekommen. Gekifft hatte sie aber immer noch. Mir ist
sie direkt am ersten Tag des Seminars aufgefallen.« Er
grinste anzüglich. »Sie hat sich schon damals seltsam
gekleidet. Gleich am ersten Abend sind wir miteinander
ausgegangen, und wir haben die Nacht zusammen verbracht. Da
wusste ich: die oder keine. Sie hatte gerade wieder mal eine
gescheiterte Beziehung hinter sich und war auf der Suche, genau
wie ich.« Schult verstummte, schaute ins Leere und schien
in seinen Erinnerungen versunken zu sein.
Arved rutschte auf dem Sofa hin und her. Er hatte Liobas
Ausstrahlung gespürt, aber die Vorstellung, wie sie mit
diesem Mann… Er wollte es sich nicht vorstellen.
»Um es kurz zu machen: Ich habe sie geheiratet«,
sagte Schult und kratzte sich am ungewaschenen Kopf. »Sie
hat ihren Job an den Nagel gehängt und ist so einer
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