Das Schattenbuch
anzurufen. Bis morgen, hatte sie gesagt.
Bis dahin würde er träumen.
Als er die beiden Näpfe mit Bobbels füllte, kam
keine der Katzen. Er goss frisches Wasser in das Schälchen
zwischen den Näpfen, doch immer noch ließen sich weder
Salomé noch Lilith blicken. Hatte er die Terrassentür
offengelassen? Er hatte keine Angst mehr, dass die Katzen
weglaufen könnten; inzwischen hatten sie sich daran
gewöhnt, im Freien zu sein und dort ihre Abenteuer zu
suchen. Immer fanden sie heim. Er ging ins Wohnzimmer. Die
Terrassentür war geschlossen.
Als er in den Ecken des Zimmers nach den beiden stöberte,
bemerkte er aus den Augenwinkeln einen schwarzen Blitz über
den Boden fegen. Er drehte sich rasch um und sah gerade noch eine
Schwanzspitze in die Diele huschen. Arved jagte ihr nach, doch
als er in der Diele stand, war wieder einmal nichts Katzenartiges
mehr zu sehen. Mit einem Kopfschütteln ging Arved in den
Keller, zog sich die Wanderschuhe an und machte sich auf zu einem
Abendspaziergang, weil er seine Gedanken und Gefühle ordnen
wollte. Wenn die Katzen Hunger bekamen, konnten sie ja über
ihr Futter herfallen.
Allmählich schmiegte sich die Dämmerung gegen das
Land. Arved ging den Hohlen Weg hoch, vorbei an den
Elefantenhäusern, wie die drei größeren
Gebäude mit Ferienwohnungen im Volksmund genannt wurden,
vorbei an dem kleinen, alten Wasserwerk, hinter dem er –
bereits jenseits des Ortes – die Landstraße
überquerte und hinunter zum Lieserpfad ging, den er immer
mit der bizarren Schöpfung eines japanischen
Landschaftsarchitekten verglich. Hier unten, auf dem schmalen
Pfad, der sich an der Bergflanke entlangzog und einen
atemberaubenden Blick auf das tiefe Tal der Lieser
ermöglichte, war die Nacht bereits zum Greifen nah.
Arved ging bis zur Rulandhütte, einem hölzernen
Schutzhäuschen, das wie ein Adlerhorst ins Tal vorsprang,
und genoss dort das Verdämmern der Sommerfarben am
gegenüberliegenden Hang. Erste Fledermäuse torkelten
durch die Luft, eine späte Amsel sang irgendwo ihr letztes
Abendlied in einer Baumkrone, und tief unten gurgelte die Lieser
wie ein Bach im Hochgebirge. Hier war eine andere Welt.
Wo mochte Lioba jetzt sein? Was mochte sie jetzt fühlen?
Was mochte sie jetzt tun? Arved konnte sich nicht erinnern, je
einer so aufregenden Frau begegnet zu sein, auch wenn sie etliche
Jahre älter war als er. Seine Mutter kam ihm in den Sinn.
Verschwommen. Mama. Nicht Mama Adeltraut. Mama Adeltraut war
seine Tante gewesen, die ihn nach dem tödlichen Autounfall
seiner Eltern aufgenommen und so bigott wie möglich erzogen
hatte. Wer ist Lioba für dich?, fragte er sich. Freundin?
Geliebte? Mutter? Er wollte es nicht wissen. Wollte sich nur der
Liebe hingeben. Vergessen in der Liebe finden. Und ein neues
Leben.
Und dein Priestertum?, zischelte eine Stimme. Er fuhr
zusammen. Die Stimme hatte nicht in ihm, nicht in seinem Kopf
gezischelt. Sie war von außen an sein Ohr gedrungen. Er
ruckte herum. Fast hatte er geglaubt, neben sich einen Schatten
sitzen zu sehen, ein Schemen. Das Gespenst mit dem Schleier aus
grauen Haaren vor dem Gesicht. Aber natürlich war da nichts.
Irgendwo schrie ein Rabe.
Die Suche nach Thomas Carnacki hatte seine Nerven
durcheinandergebacht. Er war gespannt, was Lioba zu dem
Schattenbuch sagen würde. Er fand es schön, dass sie es
nun auch las. Es schuf eine weitere Gemeinsamkeit.
Eine gemeinsame Besessenheit?
Er seufzte, schaute nach unten, lehnte sich zurück und
legte die Arme auf das hölzerne Rückteil der Bank.
Dabei berührte er etwas, das kein Holz war. Er zog die Hand
fort, als habe sie einen elektrischen Schlag erhalten.
Es war etwas Weiches, Nachgebendes. Als er es berührte,
sandte es eine Welle schrecklichen Gestanks aus, wie nach
geöffneten Gräbern. Arved schaute nicht auf, saß
reglos da und hörte, wie es sich neben ihm regte. Er wusste,
wer dort saß. Was dort saß. Dann verflüchtigte
sich der Gestank in einer Abendbrise, und sofort wusste Arved,
dass es weg war. Er wagte aufzuschauen. Fast glaubte er auf der
Bank neben sich einen feuchten, glitzernden Heck zu sehen. Wie
die Spur einer gigantischen Schnecke. Arved sprang auf und
verließ mit hektischen Schritten die Hütte.
Die Dunkelheit machte den Weg ungewiss. Immer öfter
stolperte Arved über Wurzeln und Steine. Wieder und wieder
schaute er sich um. Nichts verfolgte ihn. Natürlich nicht.
Es waren nur seine
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