Das Schattenbuch
Nasenspitze
beinahe das Glas berührte. Ganz fern vor ihm wisperte es. Er
legte die Handflächen auf das kalte Glas. Sein Abbild
ergriff sie und zerrte ihn in den Spiegel hinein.
15. Kapitel
Arved taumelte, fing sich, sah sich verwirrt um. Er stand in
einer kleinen Abstellkammer, nicht unähnlich der, aus der er
soeben herausgetreten war – wie?, fragte er sich –,
mit dem Unterschied, dass diese hier völlig kahl war. An der
Decke hing die gleiche nackte Glühbirne und leuchtete jeden
Zentimeter der Kammer aus. Die Tür zur Diele ihm
gegenüber war geschlossen. Arved war allein hier.
Er drehte sich langsam um. Fast erwartete er, an der
Rückwand des begehbaren Spindes den gleichen Spiegel wie in
der Nachbarwohnung zu sehen, doch auch diese Mauer war leer.
Hartes Weiß war wie eine Leinwand, die ein Bild erwartete.
Er ging einen Schritt auf die Wand zu, legte die Hand auf sie.
Sie war hart, kalt, verschlossen. Dann presste er das Ohr gegen
sie. Kein Laut drang von drüben her. Erst jetzt bemerkte er
die Stille. Nicht nur in der Nachbarwohnung nistete sie, sondern
überall um ihn herum. Kein Geschrei, keine Musik, nicht
einmal fernes Vogelgezwitscher. Es war wie die Stille nach dem
Luftholen, bei angehaltenem Atem, sich sammelnd, abwartend. Sie
klang nach Ewigkeit. Arved räusperte sich.
Das raue Geräusch polterte durch das Schweigen, doch es
beruhigte Arved, denn es war ein Rest von Normalität, den er
mit herübergerettet hatte.
Herübergerettet? Von wo – und wohin? Er spürte
noch den schraubstockartigen Griff seines Spiegelbildes um die
Handgelenke, doch hier war niemand als er selbst. Oder war er
selbst dieses Spiegelbild? Dann aber würden seine
Handgelenke nicht schmerzen. Er begriff gar nichts mehr. Er
öffnete die Spindtür.
Die Diele war kahl wie die Abstellkammer. Überall
Weiß, wie in einer Anstalt, nur der Boden war von
makellosem, grauem Teppich bedeckt. An den Decken hingen
Glühbirnen. Wahrscheinlich war diese Wohnung renoviert
worden und wartete nun auf den Einzug der neuen Mieter, sagte er
sich. Die Frage, wie er hierher gekommen war, blendete er
aus.
Von der Diele ging er ins Wohnzimmer. Er nannte es so, weil es
bei Manfred Schult das Wohnzimmer war. Man konnte auf die
Straße blicken. Alles dort draußen sah völlig
normal aus. Bäume, Autos, ein paar Kinder, zwei oder drei
Frauen, Müllhaufen. Das Wohnzimmer bot dasselbe Bild. Das
genaue Gegenteil zu Schults Wohnung, dachte Arved verwirrt.
Die Einbauschränke in der Küche waren ebenfalls
weiß. Alles war da: Kühlschrank (er lief, war aber
leer, wie Arved feststellte), Gefrierschrank (ebenfalls in
Betrieb und leer), Waschmaschine, Dunstabzugshaube,
Spülmaschine. Alles war neu, unbenutzt. Alles wartete. Im
Schlafzimmer war es genauso.
Im Bad, neben der neuen, weißen Toilette, kauerte
Manfred Schult.
Als er Arved sah, fuhr er zusammen und drückte sich noch
enger gegen die Wand. Er hob ruckartig die Hände und rief:
»Nein! Bitte nicht! Genug!«
Arved blieb stehen. »Was machen Sie hier?«, fragte
er.
»Geh weg!«, schrie Schult.
»Ich bin’s, Liobas Begleiter.« Das Wort
»Freund« bekam er noch nicht über die
Lippen.
»Ich glaube dir kein Wort! Du bist einer von
ihnen!«, brüllte Schult hysterisch.
»Sie haben mich doch angerufen«, sagte Arved
zweifelnd. Er bewegte sich nicht.
»Er ist nicht gekommen.«
»Aber ich bin doch hier.«
»Was wollt ihr denn noch von mir?«
»Herr Schult, bitte sagen Sie mir, wo wir hier sind. Ich
weiß nicht, wie ich hergekommen bin.«
Manfred Schult sah ihn verständnislos an. Dann schaute er
sich um. »Der Spiegel«, sagte er. »Der Spiegel
in der Wand. Und der Spiegel in dem Buch.«
»In dem Buch?«
»Das Buch, das er mir zum Lesen gegeben hat. Das
Schattenbuch mit den drei Geschichten. Das Bild zur letzten
Geschichte. Der Spiegel.«
Erst jetzt erinnerte sich Arved. Seltsam, dass ihm das
entfallen war. »Kommen Sie. Wir gehen«, sagte er zu
Schult und streckte ihm die Hand entgegen.
Schult fuhr zusammen. »Nein! Nicht schon wieder!«,
schrie er und glotzte Arved verängstigt an.
»Ich will Ihnen doch nichts tun. Ich will Sie nur hier
herausholen. Und mich dazu.«
Schult kniff die Augen zusammen, als wolle er in Arveds Seele
blicken. »Arved Winter?«, fragte er ungläubig.
»Sind Sie es wirklich?«
»Wer sollte ich denn sonst sein?«, fragte Arved
etwas ungehalten zurück.
»Einer von denen.«
»Von wem
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