Das Schattenbuch
jungen,
hübschen Diener begrüßt. Er empfahl ihr, in der
Halle zu warten, bis Herr Sauer kommen würde. Kurz darauf
stand sie dem alten Sammler gegenüber. Er trug einen Anzug,
als wolle er ausgehen, und war sichtlich erfreut, Lioba zu sehen.
Sie bemerkte, dass er ihre Erscheinung mit hochgezogenen Brauen
und einem anerkennenden Lächeln betrachtete. Und sie
bemerkte, dass es ihr gefiel. Durch Arved war ihr erst wieder
bewusst geworden, dass sie durchaus noch keine alte Vettel war.
Sie hielt ihm das Buch entgegen.
»Können Sie dasselbe für mich tun, was ich
für Sie getan habe?«, fragte sie.
Er ergriff das Buch, ohne es anzusehen. »Es ist mir ein
Vergnügen«, sagte er mit seiner dunklen Stimme.
»Ich hoffe, Sie haben es nicht gelesen?«
»Nein.« Lioba dachte an Arved und spürte, wie
ihr bange wurde. Aber was sollte das Buch ihm antun können
– ihm, dem modernen Parzival?
»Sehr gut. Jonathan«, sagte er zu seinem Diener,
der respektvoll im Hintergrund stand, »bitte verbrennen Sie
dieses Buch.« Er übergab ihm den Band, und Jonathan
verschwand damit in den Tiefen des gewaltigen Hauses. »Da
dies nun geklärt ist, bitte ich Sie, gleichsam als
Belohnung, mir die Freude Ihrer Gegenwart zu schenken.« Er
hielt ihr den Arm hin. Sie ergriff ihn, ohne recht zu wissen, was
sie tat, und er führte sie hinein in das Labyrinth der
Zimmer.
Ein leichter Brandgeruch durchzog nun das Haus. Sauer
lächelte. »Es ist geschehen«, sagte er.
»Jetzt brauchen Sie keine Angst mehr zu haben. Die
Bedrohung durch das Schattenbuch ist Vergangenheit. Wir beide
haben eine zweite Chance erhalten. Ich stehe tief in Ihrer
Schuld, weil Sie mein Buch vernichtet haben, und ich bin froh,
nun Ihnen behilflich gewesen zu sein.«
Er führte sie, wie ein Galan seine Angebetete zum Tanz
führt. In einem der Bibliotheksräume machte er Halt und
bot Lioba einen ausladenden englischen Ohrensessel an. Er selbst
setzte sich ihr gegenüber auf einen zarten, mit Damast
bezogenen Armlehnstuhl. Zwischen ihnen lag ein totes Feuer.
Abraham Sauers Blicke glitten an den Bücherregalen
entlang. »Alles Ausgeburten menschlicher Phantasie. Wehe,
sie werden Wahrheit«, sagte er leise. »Wir stehen an
einem Abgrund, den wir nicht sehen und doch Wirklichkeit nennen.
Nehmen Sie auch einen Sherry?«
Lioba nickte. Plötzlich wurde der Brandgeruch
stärker. Sie drehte sich um. Jonathan stand hinter ihr. Er
verneigte sich leicht und trug bereits zwei halbvolle
Sherrygläser auf einem Mahagonitablett. Zuerst bediente er
Lioba, dann Abraham. Als sich der Diener zu ihr hinunterbeugte,
nahm sie einen seltsam süßlichen Geruch wahr, der
hinter dem Brandgestank lauerte. Sie zuckte vor ihm zurück.
Jonathan lächelte sie mit geschlossenen Lippen an. Es war
wie das Lächeln der Schlange. Hatte Abraham das nicht
bemerkt?
Sie wollte plötzlich fort von hier, hin zu Arved, das
Leben mit ihm genießen, jetzt, da das Schattenbuch
vernichtet war. Sie nahm einen Schluck. Der Sherry rann ihr
heiß die Kehle hinunter. Er wühlte in ihr. Ließ
sie jede Faser ihres Körpers spüren. Es war ein
höchst angenehmes Gefühl. Abraham sah sie an. Sein
Blick machte sie nervös. Er hatte etwas Saugendes, etwas
Aufregendes, Knisterndes. Ihr wurde heiß – am
liebsten hätte sie sich auf der Stelle ausgezogen.
Wenn er sich ihr nun näherte, würde sie sich ihm
hingeben.
Sie schüttelte den Kopf, um diese seltsamen Empfindungen
zu vertreiben. Dieses Haus wurde ihr zunehmend unheimlich. Hier
war sie nicht mehr sie selbst.
Und sie genoss es.
Sie genoss das prickelnde Gefühl, sie genoss ihre Angst,
sie war wie aus ihrem Leben herausgefallen, hinein in ein
Zwischenreich, von dem sie nicht wusste, ob es Himmel oder
Hölle war.
»Ich bin glücklich, dass Sie hier sind«,
sagte Abraham durch den Vorhang ihrer Gedanken.
Lioba fühlte sich, als ertrinke sie in einem Meer von
Fremdheit, von Unbegreiflichkeit. »Ich verstehe immer noch
nicht, warum Sie das Buch nicht gelesen haben«, meinte sie.
»Sie haben mir von Fällen berichtet, in denen der
Kontakt mit dem jeweiligen Schattenbuch glimpflich
verlief.«
Sauer sah sie an, wie ein Großvater das Kleine ansieht,
das ihn gerade gefragt hat, warum Feuer gefährlich ist.
»Es stimmt, dass in einigen Fällen der Leser keinen
Schaden genommen hat. Aber wer garantiert, dass es gerade mir so
ergehen wird? Solange man nicht wirklich weiß, was einem
zum Verhängnis wird, ist
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