Das Schattenbuch
es ein Spiel mit dem
Feuer.«
Seine Stimme war so warm, versprach Geborgenheit, doch der
hohe Raum, in dem sie saßen, und die unzähligen
Bücher wirkten selbst auf Lioba einschüchternd. Es lag
etwas Kaltes im Zimmer, obwohl draußen ein prächtiger
Sonnentag war. Das Licht wurde durch die Bäume vor den
beiden Fenstern gefiltert, und sie kam sich vor wie auf dem Grund
des Meeres. Wie Blasen stiegen Gedankenpartikel auf, zerplatzten
an einer imaginären Oberfläche, sanken zurück auf
den Boden wie in einem ewigen Kreislauf. Die Wärme in Lioba
ließ nach, verebbte, floss aus, und sie erkannte die Risse
an der Decke und den wenigen Stellen der Wand, die nicht von
Bücherregalen bedeckt waren.
»Sie sind eine beeindruckende Frau, Lioba
Heiligmann«, sagte Sauer. Seine Worte waren wie ein
Floß, das über das unruhige Wasser auf sie zutrieb.
Seine Worte waren wie Arme, die sie liebkosten, wie Fangarme, die
sich um sie schlangen.
Und zudrückten.
Die Bücher brüteten Dunkelheit aus. Manche der
Aufschriften an den alten Leder- und Pergamenteinbänden
konnte sie von ihrem Sessel aus lesen: Necronomicon,
Unaussprechliche Kulte, Das Buch von Eibon und andere
rätselhafte Titel, die allesamt von Autoren des zwanzigsten
Jahrhunderts erfunden worden waren. Doch diese Bücher hier
waren eindeutig älter. Lioba wollte den Sessel verlassen und
sich das eine oder andere ansehen, doch sie wurde plötzlich
so müde, dass ihr jede Bewegung unendlich schwer fiel.
»Alles, was sein kann, existiert«, hörte sie
Abraham sagen. »Jede Gefahr, die denkbar ist, existiert.
Ich wünschte, wir beide könnten uns gemeinsam diesen
Gefahren stellen.«
»Ich muss gehen«, sagte Lioba unter Mühen,
doch es war ihr unmöglich aufzustehen. Nach einer heftigen
Anstrengung sackte sie zurück in das Lederpolster des
Sessels.
»Wir haben ähnliche Ansichten, ähnliche
Vorlieben, ähnliche Schicksale«, sagte Abraham Sauer.
Sie schaute ihn mit müden Augen an. Sein graues und
weißes Haar war wie eine Aureole, und in seinem Blick lag
Verzweiflung.
»Nein«, sagte Lioba wie im Schlaf.
»Sie… kennen… mich nicht.«
»Doch, ich kenne Sie. Sehr lange schon. Ich bewundere
Sie schon seit langer Zeit.«
Lioba roch seine Liebe. Sie duftete süßlich, wie
Lilien. Sie sah seine Liebe. Sie war grün, mit einem Stich
ins Blaue. Sie hörte seine Liebe. Sie klang wie ein ferner
Oboenton. Sie lechzte nach Liebe. Sie schrie nach Liebe, nach so
langer Zeit. Sie kannte ihn nicht, doch wer kannte schon den
anderen?
Eine der Gedankenblasen zerplatzte und legte ein Bild frei.
Das Bild von Arveds Gesicht. Lioba glaubte, ihn nicht zu kennen.
Hinter ihr quoll noch immer der Brandgeruch heran. Sie nahm an,
es sei der Diener Jonathan. Nur mit großer Anstrengung
gelang es ihr, sich umzudrehen und einen Blick über die
Schulter zu werfen.
Jonathan war nirgendwo zu sehen. Hinter ihr befand sich
niemand.
»Ich… kann… nicht«, sagte sie matt.
Es war nicht Arveds Bild in ihr, es war nicht die Erinnerung an
den leidenschaftlichen Kuss. Es war das dumpfe Gefühl einer
Vorahnung – als ob sie dies hätte sagen müssen,
um das Schicksal nicht durcheinander zu bringen. Sie kämpfte
sich aus dem Sessel hoch. Abraham Sauer stand ebenfalls auf.
»Werde ich Sie wiedersehen?«, fragte er.
»Ich… weiß nicht.«
»Jonathan wird sie hinausbegleiten.« Er sah aus
wie ein geschlagener Hund.
Jonathan räusperte sich. Er stand hinter ihr, als ob er
schon immer dort gestanden hätte. Sie hatte ihn nicht
hereinkommen gehört. Schweigend verneigte er sich vor ihr
und brachte sie durch die Zimmerfluchten zum Ausgang.
Während sie sich von ihm verabschiedete, grinste er sie
böse an.
Lioba atmete auf, als sie das Haus verlassen hatte und in der
erfrischenden Sommerluft stand. Ihre Mattigkeit fiel wie ein
alter Mantel von ihr ab. Sie ging über die kurze Auffahrt
hinaus zur Straße, stieg in ihren Renault und fuhr los.
Erst hinter den Kaiserthermen bemerkte sie, dass etwas auf dem
Beifahrersitz lag.
Es war das Schattenbuch.
Vor Schreck bremste sie heftig. Hinter ihr hupte es wild. Ihr
Herz raste. Sie fuhr den Wagen auf den Bürgersteig, was
einen rasenden Radfahrer zu einer Klingelorgie und interessanten
Schimpfwörtern hinriss, und starrte das Buch wie einen
angriffsbereiten Skorpion an.
Es gab nur eine Erklärung. Der Diener Jonathan musste es
ihr in den Wagen gelegt haben, statt es zu verbrennen. Woher
Weitere Kostenlose Bücher