Das Schattenbuch
ins Treppenhaus. Hier
war der Lärm noch stärker als draußen. Zu der
Kinderhorde, die sich in den beiden Wohnungen des Erdgeschosses
verteilte, gesellte sich der wummernde Bass einer schlechten
Stereoanlage und das laute Palaver eines streitenden Paares.
Arved stieg in den ersten Stock. Er blieb vor Schults Tür
stehen. Klingelte. Klopfte. Keine Reaktion. Der Lärm von
unten wurde noch lauter.
Dann, von einer Sekunde auf die andere, war alles still.
Arved verschlug es den Atem. Es war, als habe das gesamte Haus
plötzlich die Luft angehalten und warte gespannt ab. Er
drückte noch einmal gegen die Tür. Sie gab nach.
Der Lärm setzte wieder ein, noch furchtbarer als zuvor.
Arved schlüpfte durch die Tür und wollte sie hinter
sich schließen, aber es ging nicht. Er warf einen Blick auf
das Schloss. Es war beinahe aus dem Rahmen gerissen. Der Bolzen
stach aus der Tür hervor wie ein einzelner Zahn. Entweder
war jemand eingebrochen – oder jemand hatte ausbrechen
wollen.
Der Flur bot ein Bild völliger Verwüstung. Schon bei
Arveds erstem Besuch, zusammen mit Lioba, war es nicht
aufgeräumt gewesen, doch jetzt herrschte das blanke Chaos.
Das kleine Schränkchen war umgefallen, der Inhalt der
Schubladen hatte sich über den Boden ergossen, das Telefon
lag daneben. »Herr Schult!«, rief Arved laut genug,
um den Lärm von draußen zu übertönen.
»Herr Schult?« Er hatte keine Antwort erwartet.
Im Wohnzimmer herrschte dieselbe Unordnung. Auch hier musste
ein Kampf getobt haben. Alles war durcheinander geworfen, es war
beinahe, als habe ein Vulkanausbruch Unmengen von Unrat und
Abfall in die Luft geschleudert. Tatsächlich gab es in der
Mitte des Zimmers eine Stelle, die vollkommen kahl und leer war.
Auf dem schmutzigen Boden befand sich ein Brandfleck, der noch
einen schwachen, stechenden Geruch ausströmte. Sonst nichts.
Auch wirkte es nicht, als habe jemand die Wohnung durchwühlt
und nach etwas gesucht. Es war lediglich eine Umgruppierung der
Gegenstände zu anderen, aber genauso planlosen Mustern wie
zuvor. Dennoch war damit eine grundlegende Änderung bewirkt
worden. Es war nicht mehr Schults Wohnung, sondern die Wohnung
eines anderen Menschen, eines Abbildes von Schult.
Verrückte Gedanken, dachte Arved. Er sah in der
Küche nach, im Schlafzimmer, im Bad. Überall dasselbe.
Chaos. Chaos, das sich von dem unterschied, welches er am
vergangenen Tag wahrgenommen hatte.
Schult war nirgendwo zu sehen. Arved war erleichtert. Für
kurze Zeit hatte er befürchtet, die Leiche von Liobas
Ex-Mann irgendwo entdecken zu müssen. Doch die Kampfspuren
– wenn es denn überhaupt welche waren – gingen
nicht mit Blutspuren oder gar Schlimmerem einher. Und was ist mit
der Wohnungstür?, fragte eine kalte Stimme in Arveds
Kopf.
Es gab noch einen Ort, an dem er nicht nachgesehen hatte.
Er öffnete die Tür zum Spind und tastete nach dem
Lichtschalter. Die nackte Glühbirne sprang ins Dasein. Arved
hielt den Atem an und schloss die Augen. Er fürchtete sich
vor dem, was er nun sehen würde. Im Bruchteil einer Sekunde
hatte er auf dem Boden inmitten des Tohuwabohu einen
regelmäßigen Umriss wahrgenommen.
Den Umriss eines Körpers.
Arved biss sich auf die Lippe. Wenn bloß Lioba hier
wäre. Wenn er das bloß nicht allein durchstehen
müsste. Dann öffnete er die Augen.
Es waren Pappschachteln und alte Kleidungsstücke, die
sich in der Form eines menschlichen Körpers auf dem Boden
zusammengefunden hatten. Es war nicht Manfred Schult. Arved
bückte sich und atmete auf. Er stocherte in den Kleidern
herum. Ein muffiger Gestank nach altem Schweiß, Alkohol und
Essensresten drang ihm in die Nase. Aber es lag eindeutig niemand
unter dem Stoff. Er stand wieder auf und wischte sich die
Hände an den Hosenbeinen ab. Da fiel sein Blick auf den
Spiegel.
Er stand inmitten der Unordnung wie ein Herrscher über
das Chaos. Wie ein Fingerzeig des Vollkommenen in der
Unvollkommenheit. Arved trat über die Schachteln, Hemden,
Hosen und Mäntel auf dem Boden und ging auf sich selbst zu,
wurde im Spiegel größer, deutlicher, fester. Die
kleinen Dämonenköpfe im Rahmen beobachteten ihn. Er
erinnerte sich daran, wie er gestern einen zweiten Schemen neben
sich in diesem Spiegel zu sehen geglaubt hatte. Er musste
lächeln.
Erst als seine Mundwinkel wieder sanken, begriff er, dass sein
Abbild soeben nicht gelächelt hatte.
Er ging noch einen Schritt auf es zu, bis seine
Weitere Kostenlose Bücher