Das Schattenbuch
Normalität. Er horchte. Stille
herrschte wieder uneingeschränkt. Die Bilder, die er durch
die großen, sauberen Glasscheiben sah, waren wie ein
Stummfilm. Arved lief die Treppe hinunter bis zum Eingang, der
genauso weiß und grau war wie die Flure und die Wohnungen.
Keine Graffiti, kein Unrat, kein Gestank. Nicht einmal mehr der
schwache Brandgeruch. Bald stand er vor der Haustür, hinter
der das Leben dahinlief – das Leben einer beliebigen Stadt
in einem beliebigen Land.
Er öffnete die Tür.
Die Bilder, die er gesehen hatte, steckten in den Scheiben.
Hinter der Tür war vollkommene Schwärze. Absolutes
Nichts. Fressendes Nichts. Er schlug die Tür zu. Die Bilder
in den Scheiben waren wieder da und gaukelten normales Leben
hinter dem Glas vor. Normales Leben, das für ihn
unerreichbar fern war.
Er wünschte, Lioba wäre da. Er wünschte, er
würde aus diesem Albtraum aufwachen. Er wünschte, er
würde in sein altes Leben zurückfinden.
Ob das Verhör oben beendet war? Arved schüttelte den
Kopf. Das alles konnte nicht wahr sein. Was hatte Schult gesagt?
Mörder? Aber er war nicht der Kommissar, er war der
Verdächtige. Oder das Opfer. Es stimmte einfach nicht. Das
Schattenbuch hatte gelogen. Schattenbuch. Schattenlogik.
Schattenwirklichkeit.
Der Spiegel. Der Spiegel ist ein Tor zur Seele. Im Spiegel
sieht man sich selbst so, wie man sich nicht kennt. Im Spiegel
erfährt man die Wahrheit über sich. Das Buch hatte
nicht gelogen! Irgendwo dort oben, im Badezimmer einer der
gleichförmigen Wohnungen, wurde Manfred Schult über
sich selbst befragt und aufgeklärt. Und es gab kein
Entkommen.
Was ist mit mir?, fragte sich Arved. Habe ich Ähnliches
zu erwarten? Sind sie auch schon zu mir unterwegs? Warum? Er lief
wieder nach oben und suchte Manfred Schult.
Alle Wohnungen waren unverschlossen, alle Wohnungen waren
gleich. In einer von ihnen fand er Schult.
Er stand am Fenster und schaute hinaus, wandte Arved den
Rücken zu. Als Arved hineinkam, drehte sich Schult nicht um.
Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt
und schien das vorgetäuschte Leben dort draußen in
sich einzusaugen.
»Sie haben es mir gesagt«, meinte er mit tonloser
Stimme.
»Was haben sie Ihnen gesagt?«
»Dass ich ein Mörder bin.«
»Sind Sie ein Mörder?«
»Nein!« Schult drehte sich um.
Arved stockte der Atem. Dieser Mann lebte nicht mehr. Er stand
noch aufrecht, er wies keine äußerlichen Verletzungen
auf, aber an seinen Augen war zu sehen, dass sie ihm die Seele
ausgesaugt hatten.
»Ich bin kein Mörder«, wiederholte er.
»Ich habe diesen Victor nicht getötet. Was sie auch
mit mir noch machen werden, ich werde immer dasselbe
sagen.«
Victor… Der Name erinnerte Arved an etwas. Er kam nicht
sofort darauf. Schult fuhr sich mit der Hand über die
fettigen Haare. Es wirkte, als bewege sich ein schlecht
eingestellter Automat. Dann fiel es Arved ein. Liobas Geliebter
hatte Victor geheißen – jener Mann, der in die Mosel
gesprungen war und Selbstmord verübt hatte. Victor…
Ganz fern hallte in diesem Namen noch etwas wider, etwas
völlig anderes. Nein, er musste sich irren.
Schult redete weiter, sein Arm schwebte in der Luft, als sei
er ausgeschaltet worden. »Sie haben gesagt, ich hätte
ihm Briefe geschrieben.« Nun kam wieder etwas Leben in
seinen Blick. Böses, grausames Leben.
»Briefe?«, fragte Arved, als Schult einige Zeit
geschwiegen hatte.
»Und ein kleines Püppchen soll ich ihm geschickt
haben.«
»Wovon reden Sie?«, fragte Arved verwirrt.
Schult kicherte. »Briefe und ein Püppchen. Eines
mit Nadeln. Sie wissen schon: Voodoo. Nicht, dass ich an so etwas
glauben würde, aber dieser Victor hat daran
geglaubt.«
»Was stand in den Briefen?«, wollte Arved wissen.
Er schaute an Schult vorbei, dessen Arm immer noch in der Luft
schwebte, und betrachtete die Leinwand des Lebens im Fenster.
»Es waren Drohungen. Er würde nicht mehr lange
leben. Magische Rituale. Ich habe mir einiges darüber
beigebracht, müssen Sie wissen. Nicht weil ich daran glauben
würde, nein, aber ich weiß halt, wie man solchen
Verrückten beikommen kann. Schlage sie mit ihren eigenen
Waffen!« Er kicherte wieder, senkte den Arm, ließ ihn
schlaff an seiner Seite herabbaumeln. »Er hat es wohl zu
ernst genommen. Was kann ich dafür? Er hätte doch
bloß mal nachdenken müssen!« Aus dem Kichern
wurde ein Lachen. Es brach unvermittelt ab, und Schult starrte
Arved
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