Das Schattenbuch
entsetzt an. Sein Gesicht war nicht weit
von ihrem entfernt. Sie schlang die Arme um ihn und küsste
ihn lange und leidenschaftlich. Zuerst versteifte er sich in
ihrer Umarmung, dann ließ er es willig geschehen. Für
den Augenblick waren alle Schatten zerstoben.
»Unverschämt! Und das auf einem Friedhof! Diese
Jugend! Ihr…«
Arved schreckte hoch. Lioba sah eine Frau vor der Bank stehen
und einen Regenschirm schwenken, der angesichts des schönen
Wetters wie ein Hohn wirkte. Als die Frau erkannte, dass das
Liebespaar nicht jünger war als sie selbst, verstummte sie.
Und als sie begriff, dass das Rot auf Arveds Hemd Blut war,
senkte sie den Schirm, räusperte sich und suchte rasch das
Weite.
Arved und Lioba lachten wie Schulkinder nach einem gelungenen
Streich. Das Grauen war vorerst gebannt. Sie umarmten sich
wieder, als könnten sie nicht begreifen, dass der andere
wirklich da war. Sie berührten sich, streichelten sich,
küssten sich, dachten nicht an die Vergangenheit, nicht an
all das Unerklärliche. Es gab in diesem Augenblick nur sie
auf der Welt, alles andere war Abbild einer fernen, sie nicht
berührenden Wirklichkeit.
Doch die Wirklichkeit kroch allmählich zurück zu
ihnen.
Arved machte sich von Lioba los und sah sie mit seinen
großen blauen Augen an. »Wir müssen ihn
finden«, sagte er. »Wir müssen all dem ein Ende
machen.«
Lioba strich ihm mit den Fingern über das schüttere
blonde Haar. »Und wie willst du das anstellen, mein
Schöner?«, fragte sie sanft. »Hast du eine Spur,
von der ich noch nichts weiß?«
Als er wieder von ihr abrückte, sah sie, dass sich einige
Blutflecken auf ihrer Bluse abgedrückt hatten. Sie rief sich
in Erinnerung, dass es Manfreds Blut war, und ekelte sich davor.
Arved schien es nicht zu bemerken. »Wir müssen noch
einmal einen Blick in das Schattenbuch werfen«, sagte er.
»Du hast es noch, oder?«
Sie nickte. »Was soll das nützen?«, fragte
sie.
»Vielleicht geben uns die Illustrationen einen Hinweis.
In der dritten Geschichte war es schließlich der Spiegel,
der uns den Weg gezeigt hat.«
»Den Weg zu Carnacki?«, fragte Lioba
zurück.
Arved zog die Mundwinkel nach unten. »Es ist unsere
einzige Chance. Komm, lass uns gehen.« Er zerrte an ihr,
und sie gab nach. Sie war froh, aus dem verrückten Schatten
der Platane zu kommen. Während sie den Kreis ihrer
Finsternis verließ, hatte sie das Gefühl, als werde
ein winziges Stück aus ihrer Seele gerissen und bleibe dort,
auf der Bank, in der Dunkelheit.
Arved ließ sie los und lief in Richtung Ausgang. Er
schien völlig vergessen zu haben, dass sie sich vorhin noch
weltverloren geküsst hatten; für ihn existierte nur
wieder die Suche, die Jagd. Als wolle er vor etwas weglaufen,
indem er sich ein möglichst unerreichbares Ziel sucht,
dachte Lioba.
Hastig eilten sie durch das Torgebäude und liefen die
Herzogenbuscher Straße stadtauswärts hinunter. Sie
wollte ihren eigenen Wagen nehmen, aber Arved drängte sie zu
seinem Bentley. Als er die Beifahrertür aufschloss,
hörte sie Schritte hinter sich.
»Es freut mich, Sie so zu sehen«, sagte eine
schwere, männliche Stimme, und eine genauso schwere Hand
legte sich auf Liobas Schulter. Arved erstarrte in seiner
Bewegung.
Zwei Männer standen hinter ihnen. Zwei Männer in
grauen Anzügen, mit weißen Hemden und grauen
Krawatten; sie sahen aus wie Zwillinge. Ihre dunklen Augen waren
der Widerschein von Kohlefeuern.
»Blut, überall Blut«, sagte der andere,
dessen Stimme wesentlich höher war. »Wie mich das
freut.« Er verzog das Gesicht zu einer abscheulichen
Travestie menschlichen Lächelns. »Schön, dass wir
euch endlich gefunden haben.«
18. Kapitel
Arved und Lioba wurden auf den Rücksitz eines schwarzen
Wagens mit abgedunkelten Scheiben geschoben; sie konnten sich
nicht wehren. Man hatte ihnen mit geradezu zauberhafter
Geschwindigkeit Handschellen angelegt.
»Was soll das?«, fragte Lioba, als sich der Wagen
in Bewegung setzte.
Arved saß still und in sich zusammengesunken neben ihr.
Die Stadt flog dunkel hinter den schwarzen Fenstern vorbei
– die Porta Nigra, ein geducktes Tier voll unheimlichen
Lebens, die dunkle Masse des Simeonsstifts daneben, Häuser
wie Kulissen zu einem nie aufgeführten Stück. Die
beiden Männer in den grauen Anzügen schwiegen
beharrlich; auch miteinander redeten sie nicht. Lioba
überlegte angestrengt, ob es eine ähnliche
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