Das Schattenbuch
habe meinen Beruf gehasst, und ich habe meine Frau gehasst. Sie
war perfekt – erstickend perfekt. Überall
Häkeldeckchen, überall Sesselschoner, immer alles an
seinem Platz, nie irgendwo ein Stäubchen. Immer die beste
Gastgeberin, immer die hingebungsvollste Ehefrau, immer die
Liebste, Beste, Schönste. Das Buch war ein bestialisches
Buch. Es war ein Roman über einen kleinen Angestellten, der
eines Tages durchdreht. Die äußeren Gegebenheiten
waren völlig anders als bei mir und meiner Frau, aber die
Aussage war klar: Mach dich frei. Das habe ich getan. Das Buch
hat mich dazu getrieben. Wissen Sie, was das Schlimmste
ist?«
Arved schüttelte den Kopf. Als ihm bewusst wurde, dass
der Gefangene diese Art von Antwort nicht bemerken konnte, sagte
dieser bereits: »Sie wissen es nicht? Dass ich es einfach
nicht bereuen kann. Ich habe es versucht. Pfarrer Enden
weiß es. Ich büße, indem ich niemanden sehe und
hier im Dunkeln lebe. Es war ein großer Kampf mit der
Anstaltsleitung, bis sie es mir genehmigten. Wegen möglicher
Foltervorwürfe, Sie verstehen? Ich versuche, zu mir zu
finden und mich zu läutern, aber es gelingt mir nicht. Alles
Gute in mir ist tot. Und die einzige Person auf der Welt, die
mich geliebt hat, ist tot. Sie wissen, was das bedeutet. Ich
befinde mich hier unten sozusagen auf Abruf. Und mein Ende wird
noch die perverseste Phantasie weit hinter sich lassen. Ich kenne
mein Ende, denn es ist in dem Roman beschrieben. Ich werde es
Ihnen nicht sagen. Ich habe es noch nie jemandem gesagt.
Vielleicht aber gibt es für mich doch noch eine Rettung,
nämlich dann, wenn ich Sie retten kann. Vielleicht
genügt das. Vielleicht hat die Vorsehung Sie zu mir
geschickt. Als ich hörte, dass Sie hier sind, habe ich
wieder Hoffnung geschöpft. Deshalb sind Sie jetzt bei mir.
Es geht um Sie, und es geht um mich. Sie müssen sich aus dem
Strudel der Ereignisse befreien.«
»Wie kann ich das?«, fragte Arved.
Die alterslose Stimme flüsterte: »Wissen Sie, was
ich machen würde, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte?
Ich würde den Autor des Buches aufsuchen und ihn zur Rede
stellen. Ich würde gegen ihn kämpfen. Ich würde
ihn dazu zwingen, seinen Fluch zurückzunehmen.«
Ist es denn ein Autor aus Heisch und Blut?, wollte Arved
fragen, aber er kam sich einfach zu lächerlich dabei
vor.
Die Stimme redete weiter: »Wenn Sie den Autor finden,
den Urheber all dessen, dann können Sie gegen ihn
kämpfen und ihn überwinden. Ansonsten wissen Sie nicht,
wogegen Sie kämpfen. Sie sind sich selbst ausgeliefert. Wenn
man weiß, wogegen man kämpft, kann man gewinnen. Die
alten Wüstenväter haben all ihre Ängste und
Anfechtungen als Dämonen bezeichnet und ihnen auf diese
Weise ein Gesicht verliehen. So hatten sie einen Gegner, mit dem
sie es aufnehmen konnten.«
»Ich habe keine Ahnung, wo das Buch herkam.«
»Das war bei mir am Anfang genauso. Bis ich erfahren
habe, wer der Vorbesitzer war und wem ich es zu verdanken habe,
dass ich zur mordenden Bestie wurde und jetzt hier unten mein
eigenes Ende erwarte. Als ich von Ihrem Fall erfuhr und einen
bestimmten Namen hörte, dachte ich, es gibt nur diesen einen
Weg. Ich musste mit Ihnen reden.«
»Woher wissen Sie so viel über mich?«, fragte
Arved verdutzt.
Die leise Stimme lachte. »Ich weiß inzwischen
mehr, als Sie sich träumen lassen. Aber das gehört
nicht hierher. Ich möchte Ihnen sagen, von wem mein Buch
stammt. Ich bin mir sicher, dass Sie entweder bald entlassen
werden oder dass Ihre Freundin das Werk weiterführen
wird.« Die Stimme machte eine bedeutungsschwere Pause.
Arved spürte, wie ihm kalt wurde. »Sie wissen, wer
Carnacki ist?«
»Ah, Carnacki nennt er sich bei Ihnen? Nein, das
weiß ich nicht. Ich kenne nur das Zwischenglied. Es ist ein
Sammler seltener okkulter Bücher. Sein Name lautet Abraham
Sauer.«
Sauer! Das war der Mann, von dem Lioba ihm erzählt hatte.
Ihr war er äußerst sympathisch erschienen, das hatte
er aus der Art ihrer Darstellung geschlossen. Eigentlich zu
sympathisch. Arved verstand gar nichts mehr. Was hatte dieser
Mann mit den Mächten der Finsternis zu tun, die das
Schattenbuch umwebten?
20. Kapitel
Als die Haustür mit einem beruhigenden Geräusch
hinter ihr zuschlug, ging es Lioba wieder besser. Hier war sie in
ihrer gewohnten Umgebung, einem Albtraum entronnen, in dem
allerdings Arved noch immer steckte. Sie musste etwas für
ihn tun.
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