Das Schattenbuch
Zuerst ging es darum, einen Anwalt zu organisieren. Dann
musste sie sich um seine Katzen kümmern, was bedeutete, nach
Manderscheid zu fahren. Sie schaute auf die Uhr. Es war schon
nach sechs. Die Anwaltsbüros hatten vermutlich bereits
geschlossen. Zweifelnd stand sie vor ihrem Telefon im
Arbeitszimmer. Auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch lagen
Bücherstapel, die sie nicht wegräumen wollte. Alles war
so, wie es Arved gesehen hatte. Alles sollte so bleiben.
Einen Anwalt gab es, den sie auch jetzt noch anrufen konnte.
Abraham Sauer. Falls er noch als Anwalt tätig war. Einen
Versuch war es wert. Liobas Herz klopfte, als sie sich über
die Büchertürme beugte und mit bebenden Fingern seine
Nummer wählte.
Eine Zeitlang geschah nichts. Dann knackte es in der Leitung,
und eine dunkle Stimme, die eindeutig nicht die von Abraham Sauer
war, fragte: »Ja?«
Lioba nannte ihr Anliegen. Am anderen Ende sagte die seltsam
verzerrt klingende Stimme, die nur dem Diener Jonathan
gehören konnte: »Einen Augenblick, bitte.«
Es dauerte recht lange, bis Lioba endlich mit Erleichterung
und einer gehörigen Portion Nervosität Sauer
hörte. Sie entschuldigte sich für die Störung,
doch er schien über ihren Anruf mehr als erfreut. Kurz
erläuterte sie die Sachlage; wenigstens brauchte sie keinen
Eiertanz um die unglaublichen Ereignisse zu machen, da Sauer
genau wusste, worum es ging. Ein fremder Anwalt hätte Lioba
für verrückt erklärt und das Mandat keinesfalls
angenommen.
Sauer sagte: »Ich bin nicht mehr als Anwalt tätig,
aber ich besitze noch meine Zulassung. Es wäre mir eine
Freude, Ihnen und Ihrem Bekannten zu helfen.«
Ihrem Bekannten… Es klang so seltsam. Nein, Arved war
so viel mehr als das. Er war ihr Geliebter. Sauers Stimme
verursachte ihr allerdings ein wohliges Gefühl in der
Magengegend, und sie freute sich darauf, ihn nun bald
wiederzusehen. Nein, sie empfand nichts für ihn. Sie hatte
in Arved das gefunden, was sie gesucht hatte. Sauer schlug vor,
Lioba solle sofort zu ihm kommen, doch sie lehnte ab, weil sie
zuerst die Katzen holen musste. Also verabredeten sie sich
für den folgenden Morgen. Lioba legte auf und war
erleichtert. Sauer würde Arved aus dem Gefängnis holen,
da war sie sich sicher.
Sie zog sich um, warf Bluse und Rock, die ihr den ganzen Tag
über ein so falsches Gefühl gegeben hatten, in den
Wäschekorb und holte sich aus dem kleinen Schrank im
Schlafzimmer eines ihrer gewohnten geblümten Kleider. Dabei
zwinkerte sie der Statue der heiligen Elisabeth zu und murmelte:
»Du und deinesgleichen werden uns schon helfen, nicht
wahr?« Dann verließ sie das Haus und fuhr nach
Manderscheid.
Der Himmel hatte sich bewölkt. Regen drohte, fiel aber
noch nicht. Es war stickig geworden. Auf der Fahrt dachte Lioba
über diesen verrückten Tag nach: über den
vermeintlichen Mörder Arved, der ihr so gewaltige Angst
eingeflößt hatte, über seine
Unschuldsbeteuerungen, die sie inzwischen restlos glaubte,
über seine ungeheuerliche Geschichte von der Welt hinter dem
Spiegel, über ihre Erlebnisse auf dem Friedhof und die
Verhaftung durch zwei Gestalten, die wie aus einem phantastischen
Film herausgetreten wirkten. Ein Wunder, dass ich wieder auf
freiem Fuß bin, sagte Lioba zu sich selbst und trat das
Gaspedal durch.
Hinter Wittlich führte die Autobahn recht steil bergan,
und der Renault verlor an Geschwindigkeit. Der Himmel war
inzwischen bleigrau, und in der Ferne rückte eine schwarze
Wand heran, in der erste Blitze zuckten. Wo mochte Arved jetzt
sein? Sie sehnte sich nach ihm. Und sie war froh, gleich morgen
Abraham Sauer wiederzusehen. Normalerweise benötigte sie
keinen Schutz, aber in dieser Situation kam sie nicht ohne ihn
aus.
Sie überholte einen auf der rechten Spur kriechenden LKW,
dessen Auspuff schwarze Rußwolken ausspuckte. Als sie sich
neben ihn setzte, flog plötzlich eine Plane des
Anhängers auf, flatterte und gab einen kurzen, abgerissenen
Blick auf das Innere frei. Vor Schreck verriss Lioba fast das
Steuer, näherte sich dem LKW, der wie verrückt hupte
und Gas gab, sodass eine weitere gewaltige Wolke aus seinem
Auspuff quoll, die Lioba die Sicht nahm. Sie bremste, schlingerte
hinter dem Lastwagen auf den Standstreifen und kam zum Stehen.
Ihr Herz raste, ihr Puls auch, der Atem ging stoßweise. Sie
legte den Kopf auf das Lenkrad.
Spiegel. Sie hatte Spiegel auf der Ladefläche gesehen.
Spiegel an Haken
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