Das Schattenbuch
beängstigend-wunderschönen Geschichten über die
Suche nach ihrem Urheber war er in ein unentzifferbares Gewirr
von Ereignissen geraten, das ihn und Lioba zunehmend bedrohte.
Hoffentlich geschah ihr nichts. Er könnte es sich niemals
verzeihen, wenn sie Schaden nahm.
Arved ließ die Blicke durch die Zelle schweifen. Der
Boden bestand aus abwaschbarem Kunststoff, und die Wände
waren mit einer ebenfalls abwaschbaren grauen Farbe gestrichen,
die etwa in Schulterhöhe von reinem Weiß abgelöst
wurde. Und in das Grau waren etliche Zeichen und Sprüche
eingeritzt. Viele waren nicht mehr erkennbar, bei einigen
handelte es sich um obszöne Hasstiraden, aber einer neben
seinem Kopf lautete: Nur Gespenster haben ein
Spiegelbild.
Er kam nicht dazu, sich Gedanken über diesen sonderbaren
Satz zu machen. Die Tür wurde mit lautem Klacken und
Knirschen aufgeschlossen, und neben dem Wärter trat ein Baum
von einem Kerl ein, der einen schwarzen Anzug und einen
Priesterkragen trug.
»Das ist er, Hochwürden«, sagte der
Wärter, der ein Dutzendgesicht und einen Dutzendkörper
hatte, seltsam altmodisch. Er trat einen Schritt zurück und
schloss die Tür wieder.
Der Priester ging auf Arved zu, der noch auf der Pritsche lag
und sich nun langsam in eine sitzende Stellung brachte. Er
streckte dem Häftling die Hand entgegen.
»Hartmut Enden ist mein Name. Ich bin der
Gefängnispfarrer. Ich habe gehört, dass wir
gewissermaßen Kollegen sind.«
Die Recherchen der Polizei waren wohl schon bis hierher
gedrungen. Der gläserne Mensch, über den alle
Informationen sofort abrufbar waren – eine schreckliche
Vorstellung, über die sich Arved bisher nur wenig Gedanken
gemacht hatte. Verdutzt ergriff er die ihm dargebotene Hand und
schüttelte sie. Der Priester zerquetschte ihm beinahe die
Finger, dann setzte er sich neben Arved. Er roch nach billigem
Rasierwasser, von dem er unglaubliche Mengen benutzt zu haben
schien, fast als wolle er einen anderen, noch hartnäckigeren
Geruch überdecken. Vielleicht war es der
Gefängnisgeruch.
Der Pfarrer beobachtete ihn mit kleinen, grünen Augen wie
ein Insekt. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
Arved sah ihn erstaunt an. Wie konnte alles in Ordnung sein,
wo er doch in dieser Zelle saß?
Der Priester deutete seinen verblüfften Blick richtig.
»Ich habe von Ihrer unglaublichen Geschichte
gehört«, sagte er. »Da dachte ich, es gibt
einiges, worüber wir beide reden könnten, nicht
wahr?«
»Wie haben Sie so schnell…«
»Jedes Haus hat Ohren, denn jedes Haus lebt«,
sagte der Priester lächelnd. Dann wurde sein Gesicht zu
einer Maske des Ernstes und der Besorgnis. »Ich habe schon
einmal eine ähnliche Geschichte gehört. Hier in diesem
Haus.«
»Eine ähnliche Geschichte?«, fragte Arved und
spürte, wie ein Ruck durch ihn ging.
Der massige Priester schüttelte sorgenvoll den Kopf.
Arved sah, dass ihm Schweißperlen auf der breiten, roten
Stirn standen. »Eine schreckliche Sache. Ein unbescholtener
Bürger. Bringt so einfach eines Tages seine Frau um, ohne
jeden Grund. Sie hat ihn nicht betrogen, war lieb und brav, hat
gut gekocht, und da zerhackt er sie eines Abends. Die Nachbarn
haben die Polizei gerufen, und er ließ sich von den Beamten
kaum in seiner Arbeit stören. Ein Beamter im Bauordnungsamt.
Unauffällig. Jeden Tag eine Krawatte, jeden Tag
Kantinenessen. Bei der Festnahme hat er zwei Polizisten mit
seinem Schlachtermesser ernsthaft verletzt. Seine Frau
war… ich habe die Fotos gesehen und danach drei Tage nicht
mehr geschlafen.«
»Was hat das mit mir zu tun?«, fragte Arved. Der
Geruch des billigen Deos wurde immer unerträglicher; er
schien umso intensiver zu werden, je stärker der Priester
schwitzte.
Pfarrer Enden sah den Gefangenen mit traurig gewordenem Blick
an. »Als man ihn fragte, warum er das getan habe, sagte er,
das Buch habe es ihm befohlen.«
Arved richtete sich ruckartig auf. »Das Buch? Welches
Buch?«
»Das Schattenbuch.«
Arved fühlte sich, als werde ihm die Pritsche unter dem
Gesäß weggezogen. Er schaute durch das vergitterte
Fenster, hinter dem schwere graue Wolken klebten.
Der Pfarrer fuhr fort: »Ich weiß nicht, was es mit
diesem Buch auf sich hat, aber es scheint einen unheilvollen
Einfluss auf den Täter gehabt zu haben. Er ist für den
Gefängnispsychologen ein vollkommenes Rätsel. Als ich
hörte, dass Sie etwas Ähnliches erlebt und begangen
haben…«
»Ich habe nicht
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