Das Schattenbuch
gemordet!«, unterbrach Arved den
Priester. »Meine Geschichte ist völlig anders!«
Er sprang auf, rannte in der Zelle umher, blieb vor der Tür
stehen.
»Das glaube ich Ihnen gern, aber ich dachte, es
könnte vielleicht hilfreich sein, wenn Sie einmal mit dem
Gefangenen reden. Ich habe die Erlaubnis, Sie zu ihm zu
bringen.«
Arved überlegte. Konnte der andere etwas über
Carnacki wissen? Gab es noch eine Möglichkeit, das Ganze
aufzuhalten? Er musste es wenigstens versuchen. Arved holte tief
Luft, hielt sie an, stieß sie mit einem Seufzer wieder aus
und nickte.
Der andere Gefangene war im Keller untergebracht. Pfarrer
Enden führte Arved mehrere Gänge entlang, über
Treppen, an Zellentrakten vorbei, bis sie zu einem abgelegenen
Teil des Gefängnisses kamen, der einen aufgegebenen Eindruck
machte. Der Wärter ging dicht hinter Arved und hatte ihm
zuvor wieder die Handschellen angelegt. Die Wände waren
unverputzt, als habe man sich nicht mehr die Mühe gemacht,
diesem Teil des Komplexes den Anstrich des Fertigen,
Menschenwürdigen zu geben. Neonröhren flackerten und
brummten an der hohen Decke, und der Boden bestand aus rohem
Beton. Das Unheimlichste an diesen Katakomben war die Stille. Auf
dem Weg hierher hatte Arved den vielfältigen Lärm eines
Gefängnisses gehört: das Rufen, Rasseln, Klappern, das
Poltern der Schritte in den Gängen. Doch je tiefer und
weiter sie gekommen waren, desto ruhiger war es geworden. Jetzt
waren es nur noch die Schritte der drei, die zu hören
waren.
Der Wärter überholte Arved und öffnete mit
seinem gewaltigen Schlüsselbund eine Eisentür, in die
eine kleine, verschlossene Klappe eingelassen war. Arved sah,
dass es hinter der Tür stockfinster war.
»Besuch für dich«, rief der Wärter, trat
wieder auf den Gang und winkte Arved und den Priester heran.
»Es ist etwas dunkel hier, auf Wunsch unseres Gastes, aber
ihr werdet euch daran gewöhnen. Ich bleibe dabei, so kann
nichts passieren.«
Arved ging voran, der Priester folgte ihm. Die Dunkelheit
verschluckte sie.
»Setzen Sie sich hierhin«, hörte er die
Stimme des Wärters. Ein Stuhl wurde über den rauen
Boden geschoben; Arved fühlte, wie die Lehne gegen seine
Flanke drückte. Er stieß den Stuhl mit dem Bein zur
Seite und setzte sich darauf. Ein Knarren rechts und eines links
von ihm zeigte an, dass sich auch seine beiden Begleiter
niedergelassen hatten.
Arved hatte schon von Dunkelhaft gehört; es war eine
Foltermethode, die er niemals in einem deutschen Gefängnis
erwartet hätte. Als er sich noch über seine Umgebung
wunderte, hörte er plötzlich ein leises, aber ungeheuer
deutliches Flüstern.
»Sind Sie derjenige, der ein Schattenbuch
hat?«
»Ja«, sagte Arved in die Dunkelheit hinein.
»Ich habe auch eines. Ich hatte eines, aber es wird
immer mir gehören.« Es war nicht aus der Stimme
herauszuhören, ob der Sprecher alt oder jung war. »Man
hat es in die Asservatenkammer gelegt. Von dort ist es
verschwunden. Es kann kein Unheil mehr anrichten, denn es war
mein Buch. Wo ist Ihr Buch?«
Arved antwortete nicht darauf. Er versuchte, etwas in diesem
finsteren Loch zu erkennen, doch da es kein Fenster gab, war das
kaum möglich. Lediglich unter der Tür lag ein winziger
Lichtbalken.
»Ist es in Sicherheit?«, fragte die Stimme.
»Nein«, antwortete Arved der Wahrheit
gemäß.
»Dann sehen Sie sich vor. Mir glaubt man hier nicht,
denn die Psychologen haben mich für schuldfähig
erklärt. Darum bin ich hier. Ich will nie wieder das
Tageslicht sehen, und ich will nichts von der Welt hören und
niemandem begegnen. Auch darum bin ich hier. Es ist mein eigener
Wille. Nur Pfarrer Enden kommt manchmal zu mir, weil ich es will.
Und als er mir von Ihnen erzählte, wollte ich Sie kennen
lernen. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«
Was hatte er noch zu verlieren? Also berichtete Arved von
Anfang an: Wie er zu dem Schattenbuch gekommen war, wie sie nach
dem Autor geforscht hatten, wie sie auf Manfred Schult
gestoßen waren, wie dieser ebenfalls das Buch gelesen hatte
und danach auf grässliche Weise umgekommen war.
Der Gefangene hörte schweigend zu. Erst als Arved zum
Ende gekommen war, sagte er: »Mein Buch hat mir ebenfalls
den Spiegel vorgehalten – aber es war der Spiegel
zukünftiger Ereignisse. Als ich es begriff, war es zu
spät. Meine Frau und ich hatten eine vorbildliche Ehe
geführt, und ich war ein vorbildlicher Beamter. Aber ich
Weitere Kostenlose Bücher