Das Schattenbuch
Recht getan. Lioba fragte sich immer noch, warum er Abraham so
heftig abgelehnt hatte. Sie war in der Zwischenzeit noch einmal
bei Sauer gewesen, auch wenn es keinen dringenden Grund für
diesen Besuch gegeben hatte.
Keinen anderen Grund als ihre Gefühle und deren
Verwirrung.
Und jetzt stand sie hier und wartete auf ihren Arved.
Das Messer, das Jochen ihr gebracht hatte, war die Tatwaffe
gewesen. Jochen Martin hatte es in einem anonymen Umschlag in die
Redaktion des Kölner Rundblick geschickt bekommen,
mit einem Begleitschreiben, dem zufolge die Waffe eindeutige
Fingerabdrücke aufweise, die nicht von Arved Winter
stammten. Lioba hatte hocherfreut Waffe, Brief und Umschlag zur
Polizei gebracht, wo alles recht langwierig untersucht worden
war. Nach bohrenden Nachfragen ihrerseits sowie während
einer erneuten Befragung Liobas durch einen der beiden grauen
Kommissare hatte sie erfahren, dass das Schlachtermesser
tatsächlich nicht Arveds Fingerabdrücke trug und auch
nicht abgewischt worden war. Überdies handele es sich
zweifelsfrei um die Tatwaffe.
Der Kommissar konnte seine Überzeugung nicht verhehlen,
dass er die ganze Sache für ein abgekartetes Spiel hielt,
und zögerte den Haftprüfungstermin noch einen ganzen
Tag hinaus, doch dann musste der Haftrichter Arved freilassen.
Vor zwei Stunden hatte er Lioba vom Gefängnis aus angerufen
und darum gebeten, dass sie ihn abhole. Nichts tat sie lieber als
das.
Sie starrte das gestreifte Tor an, als könnte sie es mit
hypnotischen Kräften zum Öffnen zwingen. In der Nacht
hatte es geregnet und ganz Trier lag unter einem feuchten
Schleier. Es war stickig und dunstig, die Sonne bohrte sich
bereits wieder durch die milchigen Wolken. In den Pfützen
vor dem Tor spiegelten sich Teile des kalten, grauen
Gebäudeklotzes wie eine auf dem Kopf stehende Welt.
Die beiden Katzen hatte Lioba während der letzten Tage
nicht gesehen. Sie fraßen nachts, manchmal liefen sie
umher, manchmal hörte es sich wie Kampf an, und manchmal
mischten sich andere, fremde Stimmen in den Kampf. Das
Schattenbuch hatte Lioba in den hintersten Winkel einer Vitrine
verbannt, aber in ihren Gedanken drängte es sich immer
wieder nach vorn. Sie spürte überdeutlich, dass die
ganze Sache noch nicht ausgestanden war. Doch im Augenblick war
nur Arveds Freilassung wichtig.
Endlich wurde das Tor geöffnet. Arved kam in seiner
blutverschmierten Kleidung daraus hervor, sah sich kurz um, als
müsse er sich in der Wirklichkeit erst orientieren, dann sah
er Lioba und rannte auf sie zu. Er umarmte sie. Der schwache
Geruch des getrockneten Blutes drang ihr in die Nase, aber es
gelang ihr nicht, sich von Arved zu lösen. Er drückte
sie, als wolle er sie nie wieder loslassen. Nach einer halben
Ewigkeit trat er einen Schritt zurück und betrachtete
sie.
»Du hast mir versprochen, dass du mich da rausholst, und
du hast Wort gehalten. Gut siehst du aus. Und schön bist
du.« Bevor sie etwas sagen konnte, küsste er sie.
Nun war sie es, die sich von ihm befreite. »Ich finde es
schön, dass du dich so freust, aber als Erstes solltest du
dir etwas anderes anziehen.«
Arved schaute an sich herunter, als habe er alles außer
Lioba vergessen. »Ich habe nichts. Ich muss zurück
nach Manderscheid.«
»Unsinn. Wir gehen einkaufen. Ich zahle, und deshalb
bestimme ich, was gekauft wird. Wir gehen zur Blauen Hand. Komm.«
Sie brachte ihn zu ihrem Wagen, und sie fuhren in die
Innenstadt. Lioba brannte darauf zu erfahren, warum Arved so vor
Abraham Sauer zurückgeschreckt war, doch sie wollte die
Festtagsstimmung nicht verderben; außerdem tat es ihr gut,
einmal nicht über diese schreckliche Sache zu reden. Sie
wollte den Tag genießen. Und Arved schwieg.
Sie parkten in der Tiefgarage unter einem Kaufhaus. Arved
wollte Lioba in einen Billigladen schleifen, doch sie gab nicht
nach. »Ich bezahle und ich entscheide«, sagte sie und
erstickte alle Gegenwehr mit einem heftigen Zungenkuss. Ein
junges Pärchen, kaum der Schule entwachsen, pfiff
anerkennend, andere Passanten blicken die beiden missbilligend
an. Sobald man erste graue Strähnen im Haar hatte, durfte
man keine Gefühle mehr haben – als seien diese
zusammen mit der Farbe der Jugend ausgewaschen worden.
In der Blauen Hand in der Fußgängerzone der
Brotstraße suchte Lioba für ihren Geliebten einige
farbenfrohe Baumwollhemden sowie ein paar helle Stoffhosen aus,
bei deren Anblick er zuerst
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