Das Schattenbuch
geschwärzte
Trennscheibe fuhr hinter den Vordersitzen hoch. Sauer ergriff
Liobas Hand und strich sanft darüber. »Sie sind eine
bemerkenswerte Frau – auch wenn mir die Kleidung, die Sie
beim letzten Besuch angelegt haben, besser gefallen
hat.«
Lioba musste schmunzeln. Mit ihrem geblümten Kleid und
den bequemen Wanderstiefeln fühlte sie sich mehr wie sie
selbst. Sie zog die Hand nicht weg, sondern genoss die zarte
Berührung.
Die Fahrt war zu kurz für ihren Geschmack. Sauer hatte
ein wenig Konversation gemacht und dabei vermieden, Arveds Fall
anzusprechen. Es hatte Lioba beruhigt. Das Innere des Wagens war
wie ein Raum außerhalb der Welt. Es tat ihr fast Leid, als
sie vor dem Gefängnis aussteigen mussten.
Abraham Sauer wies sich als Arveds Anwalt aus, und man bat ihn
sowie Lioba, in einem fensterlosen Zimmer auf den Gefangenen zu
warten.
Als Arved von einem blassen Wärter hineingeführt
wurde, entsetzte sich Lioba. Er sah krank aus: bleich, mit tiefen
Rändern unter den Augen, als habe er die ganze Nacht nicht
geschlafen, ungekämmt und in erbärmlicher
Sträflingskleidung. Apathisch setzte er sich vor Lioba und
Abraham. Er schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln. Sie bezwang
ihren Drang, aufzuspringen und ihn in den Arm zu nehmen, denn der
Wärter stand neben der Tür.
Und da war noch Abraham.
Arved schaute den Anwalt ohne sonderliches Interesse an.
Lioba sagte: »Das ist dein Verteidiger, Arved. Darf ich
vorstellen: Abraham Sauer.«
Arveds Reaktion hatte sie nicht vorhersehen können. Er
riss die Augen auf, rief: »Das ist er?«,
sprang hoch und lief zur Tür. Der Wärter stellte sich
ihm in den Weg. Abraham und Lioba sahen sich verblüfft an.
»Ich will hier raus!«, rief Arved. Der Wärter
packte ihn. Er warf Abraham und Lioba einen entschuldigenden
Blick zu und führte Arved ab. Auf der Schwelle rief er:
»Dieser Mann wird mich niemals verteidigen!« Dann
schloss sich die Tür hinter dem Wärter und seinem
Gefangenen.
»Was sollte denn das bedeuten?«, fragte Lioba
ihren Begleiter. »Kennt er Sie?«
»Ich wüsste nicht, woher«, gab Abraham mit
einem Schulterzucken zurück. »Wir sind uns noch nie
begegnet. Aber wenn er mich nicht haben will, kann ich nichts
machen. Es tut mir schrecklich Leid. Ich kann das Mandat nicht
gegen seinen Willen übernehmen.«
Liobas letzte Hoffnung war zerstört. Sauer führte
sie am Arm aus dem Gefängnis. Als sich das Tor hinter ihnen
schloss, hatte sie das Gefühl, dass sie Arved nie
wiedersehen würde. Auf der ganzen Fahrt redete der alte
Anwalt kein Wort mit Lioba. Er ergriff nur wieder ihre Hand und
streichelte sie.
Sauer setzte Lioba vor ihrem Haus ab. Sie schaute der
dunkelgrauen, gewaltigen Limousine nach, wie sie langsam und
beinahe lautlos in Richtung Moselufer davonrollte, am Ende der
Straße drehte und wieder an ihr vorbeifuhr, bis sie hinter
der nächsten Ecke verschwand. Niedergeschlagen stieg Lioba
die bröckelnden Stufen zu ihrer Haustür hoch.
Die beiden Katzen, die im Flur gewartet hatten, flohen, als
sie die Antiquarin sahen. Es war ihr gleichgültig. Schwer
ließ sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer fallen.
»Verdammt, glotzt mich nicht so an!«, schrie sie den
Büchern entgegen, die wie stumme Wächter eines
untergegangenen Wissens auf ihren Regalen hockten. Lioba verbarg
den Kopf in den Händen und weinte.
Es klingelte an der Tür. Sie fuhr hoch. Rieb sich die
Augen. Wer mochte das sein? Sie eilte in den Flur. Vielleicht war
Abraham zurückgekehrt, vielleicht war ihm ein juristischer
Winkelzug eingefallen, wie man Arved doch noch helfen konnte. Mit
neuem Mut riss Lioba die Tür auf.
Vor ihr stand nicht Abraham Sauer.
Vor ihr stand ein Mann, dessen Besuch sie am wenigsten
erwartet hätte. Es war Jochen W. Martin, der Journalist, ihr
alter Freund und verlässlicher Bündnispartner in
angenehmen und unangenehmen Lebenslagen. Er schwenkte eine
schmutzige, durchsichtige Plastiktüte vor ihrem Gesicht.
In dieser Tüte befand sich ein riesiges, von einer
großen Menge getrocknetem Blut besprenkeltes
Schlachtermesser.
21. Kapitel
Lioba wartete schon seit einer Stunde. Das große Tor in
der Gottbillstraße hatte sich noch nicht geöffnet.
Doch heute endlich war der große Tag. Die Untersuchung
hatte drei Tage in Anspruch genommen. Insgesamt vier Tage
saß Arved nun schon in Untersuchungshaft, hatte keinen
Anwalt, weil er auf sein Glück vertraut hatte, und er hatte
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