Das Schattenbuch
schaute Arved fragend an. Dieser
berichtete von seinem seltsamen Erlebnis mit dem im Dunkeln
hausenden Gefangenen. »Wir sollten diesem Sauer einen
Besuch abstatten«, schloss Arved und schlug die Beine
übereinander. Er wirkte, als beabsichtigte er keinesfalls,
das zu tun, was er soeben gesagt hatte. Lioba hingegen erhob
sich.
»Worauf wartest du noch? Bringen wir es ein für
allemal hinter uns. Wir folgen dieser Spur noch, dann ist
Schluss.«
»Schluss?« Arved schüttelte den Kopf.
»Es wird niemals Schluss sein.«
Eine halbe Stunde später standen sie vor Jonathan. Er
wirkte, als habe er den Besuch erwartet. Wortlos führte er
Arved und Lioba zu seinem Herrn, der in einem kleinen,
verwinkelten Zimmer seiner gigantischen Bibliothek saß.
Abraham Sauer begrüßte Lioba überschwänglich
und sah Arved dabei misstrauisch an.
Lioba machte sich von Sauer los, stellte sich neben Arved und
legte ihm den Arm um die Schulter. »Mein Freund will Ihnen
eine Frage stellen«, sagte sie.
Sauer deutete auf zwei kleine Chippendale-Sessel mit
Damastbezügen; er selbst blieb stehen. Nachdem Arved sich
gesetzt hatte, berichtete er dem Anwalt von seinem Gespräch
mit dem Dunkelhäftling. Dabei sah Lioba Sauer erwartungsvoll
an.
Als Arved geendet hatte, fragte sie: »Was hat das alles
zu bedeuten? Wieso sind Sie ein Zwischenglied? Was haben Sie mit
diesen Büchern zu tun?«
Sauer seufzte. »Es hat wohl keinen Sinn zu
leugnen«, sagte er, ging in dem kleinen Zimmer umher und
strich mit den Fingern an den Bücherrücken entlang.
Dann drehte er sich um und sah Lioba an, den Blickkontakt mit
Arved vermied er. »Was ich Ihnen erzählt habe, stimmt.
Ich habe mein Buch auf genau jene seltsame Weise erhalten, wie
ich es Ihnen geschildert habe. Aber das war nicht der letzte
Kontakt mit diesem unheimlichen Menschen.« Er
räusperte sich und verschränkte die Arme vor dem Bauch,
als stehe er vor einem Richter und müsse sich verteidigen.
»Ich habe auch schon vorher das eine oder andere Buch
für ihn verteilt. Es war die Bedingung, um dafür bald
mein eigenes Exemplar zu erhalten. Ich habe geglaubt, das Buch
könne mir nichts anhaben. Ich war besessen von dem Gedanken,
das Letzte Geheimnis zu schauen, obwohl ich wusste, wie es den
vielen anderen ergangen war, die in Kontakt mit diesem Buch
– mit ihrem Buch – gekommen waren. Ich
glaubte, ich sei besser vorbereitet. Und als ich mein Buch
erhielt, war ich, wie Sie wissen, zu feige, um es zu lesen. Sie
haben es für mich verbrannt. Aber es hat trotzdem an mir
weitergefressen. Ich hatte schon zu viel von ihm gelesen.«
Er fuhr sich mit der rechten Hand über die Augen. »Ich
hatte gehofft, mit Ihrer Hilfe aus diesem Albtraum zu entkommen;
deshalb habe ich Ihnen Ihr Exemplar zukommen lassen. Was glauben
Sie, von wem die Kiste mit den Büchern stammte, die eines
Tages vor Ihrer Tür stand?«
Lioba klappte die Kinnlade herunter. Es dauerte eine Weile,
bis sie sich wieder in der Gewalt hatte. »Sie?«,
brachte sie nur hervor. »Warum haben Sie mir das angetan
– uns allen?«
»Ich wusste ja nicht, dass Ihr Buch noch andere Menschen
mit in den Untergang ziehen wird«, versuchte sich Sauer zu
verteidigen.
»Warum?«, fragte Lioba erneut.
»Weil… weil ich Sie verehre, schon seit langer
Zeit, auch wenn Sie es nicht wissen konnten. Ich habe Sie aus der
Ferne geliebt und mich nach Ihnen verzehrt. Darum habe ich Sie
immer wieder aufgesucht und so viele Bücher bei Ihnen
gekauft. Die meisten hatte ich schon, aber es war mir egal. Nur
Ihre Nähe war mir wichtig. Bis heute habe ich nie den Mut
aufgebracht, es Ihnen zu gestehen. Sie haben mich verhext, Lioba
Heiligmann.« Er lachte auf. »Ich dachte, wir
könnten das Problem der Schattenbücher gemeinsam
lösen. Aber ich sehe, dass Ihr Herz an einem anderen
hängt. Es tut mir unsagbar Leid, Ihnen und den Ihren so
viele Schwierigkeiten gemacht zu haben.«
»Schwierigkeiten?!«, erboste sich Lioba. Sie
konnte einfach nicht glauben, was sie da hören musste.
»Mein Ex-Mann ist tot, und etwas ist hinter uns her –
etwas, dem wir uns nicht stellen können, weil es für
uns unfassbar ist. Es wird auch uns noch vernichten, wenn wir es
nicht aufhalten.«
»Sie kennen den Weg«, sagte Sauer leise.
Lioba sprang auf und stellte sich mit verschränkten Armen
vor Sauer. »Ich glaube Ihnen kein Wort mehr. Wo können
wir diesen verdammten Carnacki finden?«
»Sie glauben doch wohl nicht,
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