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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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mehr Gas. Sie flogen über die
Eifelhöhen dahin, doch es würde nicht lange dauern, bis
sich die Straße ins Tal der Kleinen Kyll hinabwand. Und
dann…
    Und dann kamen die abschüssigen Serpentinen.
    Die erste Kurve nahm Lioba mit Meisterschaft, auch die zweite
und die dritte, aber dann war der LKW so dicht hinter ihnen, dass
er wieder auf den Twingo auffuhr. Verdammt, das war doch
unmöglich!, dachte Arved, als es krachte und knirschte.
Dieser riesige LKW mit seinem Hänger konnte nicht so schnell
durch die Kurven rasen. Aber er war unleugbar da, er war
unleugbar substanziell, und er schob den kleinen Renault
unleugbar von der Straße.
    Lioba kurbelte verzweifelt am Lenkrad, doch sie konnte es
nicht mehr verhindern. Der Wagen krachte gegen die Leitplanke,
und als diese sich bei einer Wiesenzufahrt in der Talsenke
öffnete, schoss der Twingo über eine kleine
Brücke, fuhr gegen das Geländer, drehte und
überschlug sich.
    Und blieb rauchend auf dem Dach liegend.
    Der LKW donnerte röhrend weiter die Straße entlang;
Arved hörte noch, wie er mächtig Gas gab, um die
kommenden Steigungen zu überwinden. Dann wurde alles schwarz
um ihn herum.
    * * *
    Etwas zerrte an ihm. Etwas rief nach ihm. Beides begriff er
nicht. Er schlug ein Auge auf, dann das zweite. Die Welt stand
Kopf. Es war Lioba, die nach ihm rief und an ihm zerrte. Er
ließ sich ohne Widerstand auf die Wiese schleifen. Lioba
kniete sich neben ihn, fühlte seinen Puls. Sie hatte sich
die Stirn aufgeschlagen, Blut klebte an ihren Schläfen. Er
betastete ihr Gesicht und lächelte sie an. Sie lächelte
zurück.
    Dann warf sie sich über ihn und drückte ihn so fest,
dass er schon befürchtete, ihm werde jeder Knochen im Leibe
brechen.
    Er war erstaunt, dass er einige Zeit später aufstehen und
sich normal bewegen konnte. »Was war das?«, fragte
er.
    »Woher soll ich das wissen?«, flüsterte Lioba
und strich sich eine silberne Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Was auch immer es war, jetzt ist es weg. Wo sind wir
hier?«
    »Es ist nicht weit bis nach Manderscheid, wenn wir durch
den Wald gehen«, sagte Arved.
    »Schaffst du das?«
    Er machte ein paar Schritte. Zwar schien er sich einige
Prellungen zugezogen, aber nichts gebrochen zu haben.
»Ja.«
    Sie überquerten die schmale Straße, die nun so
verlassen wirkte, als würde auf ihr nie ein Auto fahren, und
betraten einen Waldweg, auf dem noch dicht das Laub des letzten
Winters lag. »Wenn wir hier entlang gehen, kommen wir zu
einem kleinen Wasserfall und einer Brücke, die
Germanenbrücke heißt«, erklärte er.
»Wenn wir uns von dort aus rechts halten, ist es nicht sehr
weit bis Manderscheid.«
    Lioba nickte. Der Weg war schlammig, er führte an der
Kleinen Kyll entlang, auf der gegenüberliegenden Seite
erstreckte sich eine Wiese, auf der Kühe weideten. Arved
saugte dieses Bild in sich auf wie eine Droge. Alles war normal,
wie es immer gewesen war. Hier konnte nichts Ungewöhnliches
geschehen. Niemals.
    Lioba riss ihn aus seinem Bemühen, das Gleichgewicht
wiederzufinden. Sie fragte: »Hast du jemanden im
Führerhaus gesehen?«
    »Den Fahrer konnte ich nicht erkennen. Aber neben ihm
saß Sauer.«
    »Der tote Sauer.«
    »Ja. Wenn er überhaupt tot ist.«
    Lioba seufzte schwer. »Was liegt in deiner Vergangenheit
begraben, Arved Winter? Welche Phantome schleppst du mit dir
herum?«
    »Wie meinst du das?«, fragte er zurück. Jetzt
hatten sie den kleinen Wasserfall erreicht, über den eine
wacklige, bemooste Holzbrücke ans andere Ufer des Flusses
führte. Vorbei an einer verfaulten Bank und einem Tisch, der
eher wie ein vorzeitlicher Altar aussah, gingen sie bergan. Arved
sagte kein Wort mehr; er dachte angestrengt nach. Es hatte keinen
Sinn wegzulaufen. Bisher hatte er geglaubt, dass keine der drei
Geschichten des Schattenbuches auf ihn zutraf, denn die erste war
Liobas Geschichte, und mit der zweiten hatte er nichts zu tun. Er
hatte geglaubt, seine einzige Verfehlung sei sein Glaubenszweifel
gewesen. Aber er hatte sich offenbar geirrt.
    Die Person, hinter der das Gespenst her war, um sie in den
Abgrund zu zerren, war nicht Lioba. Das war er selbst.
    Er blieb stehen. Fern sangen Meisen und Rotkehlchen, und hoch
über dem Wald stieß ein Bussard seine miauenden Rufe
aus. Lioba sah ihn erwartungsvoll an. Die Bilder brachen
über ihn herein – die Bilder aus der Vergangenheit. Es
war, als sei ein Damm gebrochen. Arved blieb
überwältigt

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