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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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stehen und schluckte. Jetzt ergab es
plötzlich einen Sinn. Er hatte es so lange verdrängt,
bis es scheinbar verschwunden war. Seine größte
Verfehlung. Sein größtes Versagen. Seine
größte Schuld. Er seufzte und ging eine Weile
schweigend weiter. Dann sagte er: »Es gibt da etwas aus
meinem früheren Leben, das du wissen solltest«, sagte
er. »Vielleicht wirst du mich nicht mehr lieben, wenn ich
es dir gebeichtet habe, aber dieses Risiko muss ich
eingehen.«

 
23. Kapitel
     
     
    Es war eine Geschichte, die sich vor etwa sieben Jahren
ereignet hatte. Damals war Arved noch ein junger, unerfahrener
Priester gewesen. Er hatte die Angelegenheit aus seinen
Erinnerungen ausgesperrt, bis jetzt, wo sie machtvoll und
unerträglich in den Vordergrund drängte. Arved dachte
daran, wie er von seiner Haushälterin in der Bibliothek
heimgesucht worden war. Er hatte es immer schrecklich gefunden,
in seiner knapp bemessenen Freizeit gestört zu werden. Er
hatte Angst vor solchen Störungen gehabt, weil sie ihn
unweigerlich in schwierige Situationen brachten, die ihn schnell
überforderten. »Herr Winter, da will Sie jemand
sprechen. Ich glaube, es ist dringend.«
    Arved ging in Gedanken verloren neben Lioba über den
schattigen Waldweg. Zwischen den Kronen der alten Eichen und
Buchen zeigte sich wieder die Sonne, wie eine Verheißung.
Was würden sie auf der Oberburg finden? »Unsere
Lebenswege hätten sich beinahe schon einmal gekreuzt –
vor sieben Jahren«, sagte er schließlich.
    Er warf einen seitlichen Blick auf Lioba. Das geronnene Blut
an ihren Schläfen machte sie zum Gespenst. Die Kleine Kyll
lag zu tief im Tal, als dass sie sich in ihr hätten waschen
können. Sicherlich gab Arved kein besseres Bild ab. Ihm
schmerzten die Rippen, und er fühlte sich, als wäre er
in einen Fleischwolf geraten. Lioba schaute starr vor sich; sie
gab nicht zu erkennen, ob sie ihm überhaupt zuhörte.
Doch er war sich sicher, dass ihre ganze Aufmerksamkeit nun ihm
galt.
    »Ich glaube, ich habe deinen Victor gekannt.«
    Lioba blieb stehen und sah ihn an. »Woher?«,
fragte sie so leise, dass ihr Wort beinahe im Gesang der
Vögel unterging.
    Arved schaute ihr in die Augen. Es war so verdammt schwer.
»Damals, als ich noch Priester in Sankt Paulin war, kam
eines Tages ein junger Mann zu mir und wollte meine Hilfe haben.
Er hat gesagt, er sei das Opfer einer okkulten Verschwörung
gegen sein Leben. Sein Name war Victor. Den Nachnamen habe ich
vergessen, oder er hat ihn mir nie genannt. Er war mir
unheimlich.« Ohne auf Lioba zu achten, ging Arved weiter.
Sein Geständnis war inzwischen zu einem Selbstgespräch
geworden. Altes, braunes Laub raschelte unter seinen
Füßen, wisperte Worte aus der Vergangenheit.
»Sie müssen mir helfen, hat er gesagt, Sie müssen
einen Exorzismus über mich abhalten, denn ich
befürchte, ich bin besessen. Sie müssen die bösen
Geister bannen. Das können nur Sie in Ihrer Eigenschaft als
Priester. Warum er zu mir käme, habe ich ihn gefragt, er war
ja gar nicht Mitglied meiner Gemeinde. Er gab zu, er sei seit
Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen, aber er hatte
irgendwoher gehört, ich sei ein sehr umgänglicher
Mensch. Aber er hatte sich den Falschen ausgesucht. Ich sagte
ihm, dass es in Deutschland nicht erlaubt sei, einen Exorzismus
durchzuführen, und außerdem wäre dazu nur der
Bischof berechtigt. Doch von solchen Einwänden wollte er
nichts hören. Er war wirklich besessen – besessen von
der Vorstellung, dass ihn jemand auf okkulte Weise zu töten
versuchte. Er hat gefleht und gebettelt.« Arved seufzte und
verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Er
verstummte.
    Lioba bedachte ihn mit einem Blick, in dem Abscheu und Mitleid
lagen. Er wusste nicht, ob diese Gefühle ihm oder Victor
galten. Er wollte es nicht wissen.
    Arved betrachtete die knorrigen Eichen, die sich an den Hang
geduckt hatten. Der Weg führte nun in einer langen Kehre
weiter bergan, das Sprechen fiel ihm schwerer. Er begann zu
schwitzen. Wenigstens schwanden die Schmerzen allmählich.
Mein Gott, sie hätten beide tot sein können.
    »Er ist viermal bei mir gewesen«, fuhr Arved fort,
nachdem er wieder ein wenig Kraft getankt hatte. »Jedes Mal
war er verrückter, fordernder. Er schwankte zwischen
Drohungen und kläglichem Betteln. Ich empfahl ihm,
regelmäßig in die Messe zu gehen und die Finger von
allen okkulten Praktiken zu lassen, und habe ihm

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