Das Schattenbuch
kurzen Blick bemerkte Arved, dass Lioba mehr als achtzig
Kilometer fuhr. Und der LKW holte immer noch auf, jetzt hatte er
bereits fast die Stoßstange des Twingo erreicht.
Es war ein alter Lastwagen. Er sah aus wie einer dieser
russischen Armee-Laster, die man manchmal in antiquierten
Kriegsfilmen sah, allerdings war er rot. Die Front mit dem
verbeulten Grill ragte auf wie ein Hochhaus, und darüber
lagerten Schatten. Lediglich ein riesiges, lächerlich
dünnes weißes Lenkrad war zu sehen, das an zwei
Stellen von Schwärze unterbrochen wurde – vermutlich
die Hände des Fahrers.
Die nächste Ampel schaltete gerade auf Grün und zum
Glück stand kein weiterer Wagen vor ihnen. Lioba raste mit
inzwischen beinahe hundert Stundenkilometern über die
Kreuzung, dicht gefolgt von dem Lastwagen. Dann bremste sie
heftig und bog am Platz an der Lieser scharf nach links zu dem
großen Parkplatz ab. Der Twingo schlingerte und das Heck
brach aus. Das rechte Hinterrad traf den Bordstein. Ein so
starker Schlag ging durch den Wagen, dass Arved schon
befürchtete, er würde entzweibrechen, doch nach einigen
Schlangenlinien hatte Lioba ihn wieder eingefangen.
Der LKW hinter ihnen hatte hingegen größere
Probleme. Er musste ebenfalls heftig bremsen, neigte sich
bedenklich in die Kurve, und der Hänger wäre beinahe
umgekippt, während Lioba immer mehr Platz zwischen sich und
dem LKW gewann. Doch der wahnsinnige Fahrer holte schnell wieder
auf.
Am Ende des Parkplatzes fuhr Lioba nach rechts, aus Wittlich
heraus und in Richtung Manderscheid. Schnell hatte sie auf der
langen Geraden die Höchstgeschwindigkeit erreicht.
Der Lastwagen war weit abgeschlagen, aber er folgte ihnen
immer noch. Die Gerade endete in einer immer schärfer
werdenden Rechtskurve, während die Straße steil bergan
stieg. Lioba bremste, die Reifen quietschten, aber sie wollte den
Vorsprung nicht verlieren. Der Lastwagen holte wieder auf. Viel
zu schnell. Er musste einen unwahrscheinlich starken Motor unter
der Haube haben.
Fetter, schwarzer Ruß quoll aus dem Auspuff des
schrecklichen Gefährts, als es erneut Gas gab und den
Abstand verringerte. Der LKW legte sich in die Kurve, als gebe es
für ihn keine Gesetze der Schwerkraft.
Durch Minderlittgen ging es mit unverminderter
Geschwindigkeit. Eine Mutter sprang mit ihrem Kind auf dem Arm
gerade noch rechtzeitig von der Straße, und der LKW hinter
ihnen erwischte einen Hund, der schrecklich auf jaulte. Arved
schluckte und schloss die Augen. Das konnte nur ein Albtraum
sein. Das war nicht real. Das war unmöglich real. Doch das
Ruckein und Schaukeln des kleinen Wagens zwang ihn, rasch wieder
die Augen zu öffnen. Er warf Lioba entsetzte Blicke zu.
Keiner von beiden sagte ein Wort.
Vor Großlittgen führte die Straße wieder
steil bergab. Lioba bremste erst kurz vor der Kurve und geriet
auf die Gegenfahrbahn; zum Glück kam dort niemand. Der LKW
wurde wie eine unaufhaltbare Lawine im Rückfenster immer
größer. So konnte er unmöglich die Kurve nehmen;
er musste hinausgetragen werden. Arved betete darum. Es war das
erste Mal, dass er um den Schaden eines anderen betete. Doch der
riesige, qualmende Wagen hielt die Spur.
Auf Liobas Stirn standen Schweißperlen. Sie kniff die
Lippen zusammen, und ihre Hände hielten das Lenkrad so fest
gepackt, dass die Knöchel weiß hervorstanden. Sie
lenkte den Twingo um eine Verkehrsinsel am Ortseingang herum,
schaltete herunter, was das Getriebe mit lautem Knirschen und
Heulen quittierte, und jagte über die menschenleere
Straße. Der LKW fiel plötzlich zurück.
Arved atmete auf, und auch Lioba entspannte sich ein wenig.
Sie stieß die Luft aus, als habe sie sie während der
ganzen Fahrt angehalten. Doch hinter dem Ort pirschte sich der
Lastwagen wieder an den kleinen Renault heran.
Diesmal kam er so nahe, dass er dem Wagen einen Stoß
versetzte. Es krachte hässlich, der Twingo flog nach vorn,
und in diesem Augenblick konnte Arved einen ersten Blick in das
Führerhaus werfen. Der Fahrer war immer noch nichts als
Schatten, doch auf dem Beifahrersitz saß jemand, den er
erkannte.
Abraham Sauer.
Arved konnte Lioba nicht bitten, einen Blick zurück zu
werfen; im Rückspiegel war die Fahrerkabine wahrscheinlich
nicht ganz zu sehen. So wusste er nicht, ob nur er Sauer sah. Nur
er… Das Gespenst… das Gespenst, das sie dem Tod
entgegen trieb… das ihn dem Tod entgegen
trieb…
Lioba fluchte und gab noch
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