Das Schattenbuch
vorgeschlagen,
er könne seine ganzen magischen Bücher im
Pfarrbüro abgeben. Ich würde sie dann vernichten. Aber
nichts geschah. Er kam nicht in die Kirche, er gab keine
Bücher ab. Aber er besuchte mich wieder und wieder. Beim
vierten Mal habe ich mich von meiner Haushälterin verleugnen
lassen. Da hat er mir an der Tür des Pfarrhauses
aufgelauert, als ich am Abend noch einen Spaziergang machen
wollte. Er muss den ganzen Tag da gestanden haben. Damals habe
ich nicht begriffen, wieso man wegen derart läppischer Dinge
so aufgeregt sein kann. Ich hätte niemals vermutet, dass er
sich umbringt.« Arved schwieg wieder. Er erinnerte sich an
den irren, verzweifelten Ausdruck in den dunklen Augen Victors,
an seine fahrigen Bewegungen, an die sich überschlagende
Stimme, an die langen, grauschwarzen Haare. An jenem Abend hatte
er sich an Arveds Arm gehängt, und er hatte diesen Victor
mit Gewalt abschütteln müssen. »Das wird Ihnen
noch Leid tun! Sie müssen doch helfen!«, hatte er
hinter dem Priester hergebrüllt. Jetzt tat es ihm Leid.
Ein schmaler Pfad zweigte nach rechts von dem Weg ab und
führte noch steiler bergauf. Arved bog in ihn ein, schaute
nicht nach Lioba, hatte sie ganz vergessen. Er sah nur noch
Victors angstverzerrtes Gesicht, als er Arved ziehen ließ.
Noch am selben Abend hatte er sich in der Mosel ertränkt. Am
nächsten Tag stand es im Trierischen Volksfreund. Und
Arved trug eine Mitschuld an diesem Tod. Eine Mitschuld, die er
sich bis heute nicht eingestanden hatte. Damals hatte er gesagt,
er habe sowieso nichts für diesen Verrückten tun
können, obwohl er ihm entsetzlich Leid getan hatte. Er
wusste, dass er versagt hatte, und deshalb schob er die
Verantwortung weit von sich, bis er sie an einer
unzugänglichen Stelle seiner Erinnerungen begraben hatte.
Tot und begraben.
»Ich kann es einfach nicht glauben«, murmelte
Lioba hinter ihm. Der Weg war so schmal, dass sie nicht
nebeneinander hergehen konnten. »Ich habe ihm ebenfalls
nicht helfen können, aber ich habe es wenigstens versucht.
Und du hast ihn einfach weggeschickt.«
Inzwischen befanden sie sich in einem dichten Tannenwald, der
dunkel wie eine Vorahnung des Abends war. Arved blieb stehen und
sah Lioba an. Sie befand sich ein wenig unterhalb von ihm.
»Für mein Versagen gibt es keine
Entschuldigung«, bekannte er. »Ich hatte keine
Berufung und daher nicht den richtigen Beruf, aber das hat mich
nicht davon entbunden, anderen Menschen zu helfen. In vielen
Fällen ist es mir auch gelungen – später.
Erinnere dich nur an das, was ich dir über Lydia Vonnegut
erzählt habe, deren Sterben ich begleitet habe.«
Lioba nickte und sah in eine Ferne, die in der Vergangenheit
lag. Das war eine andere Geschichte gewesen, eine Geschichte, in
der Arved beizustehen versucht hatte. Wenn er es sich recht
überlegte, hatten seine Versuche, anderen Menschen wirklich
zu helfen, erst mit seinem Versagen bei Victor begonnen. Er
drehte sich um und ging weiter, bis sie den dunklen Tannenwald
hinter sich gelassen hatten und auf eine Wiese kamen. Links vor
ihnen lag der Dombachhof; Manderscheid war nicht mehr weit. Nun
konnten sie wieder nebeneinander gehen.
Lioba legte den Arm um seine Hüfte. Er ließ es mit
freudiger Überraschung geschehen und schaute sie an. Er
schaute in lächelnde Augen, vor denen ein sanfter
Tränenschleier lag. »Du bist nicht mehr der, der du
damals warst, Arved Winter«, sagte sie und zwinkerte ihm
zu. »Wenn ich dich damals kennen gelernt hätte,
wärest du mir vermutlich sehr unsympathisch gewesen, und
mehr als Mitleid hätte ich für dich nicht aufbringen
können. Ich weiß noch nicht, ob ich wütend
über dich sein soll oder nicht. Was du getan hast, war eine
große Unverantwortlichkeit. Aber ich selbst war auch
unverantwortlich.«
Arved blieb wieder stehen und sah sie fragend an.
»Ich habe Manfred mit Victor betrogen und später,
als wir schon geschieden waren, Victor mit Manfred. Es war nur
ein einziges Mal.« Sie seufzte. »Manfred hatte mich
zu sich – das heißt in unsere gemeinsame Wohnung in
der Karl-Marx-Straße – eingeladen. Wir haben auf der
Dachterrasse gesessen, etwas getrunken und viel geredet. Dann
sind wir reichlich beschwipst nach drinnen gegangen, es war fast
wie in alten Zeiten. Da ist es einfach passiert. Manfred hatte
danach nichts Eiligeres zu tun, als es – anonym
natürlich – Victor zu hinterbringen. Er war
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