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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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drückte sich noch dichter an die Mauer, warf einen kurzen
Blick zurück. Die Mauer war so breit, dass man bequem auf
ihr stehen konnte. Mit einem Sprung war Arved auf der Mauerkrone.
Er schaute auf die Gestalten herunter. Die eine war jetzt
deutlicher geworden.
    Es war eine Ausgeburt der Hölle. Kohlen glommen in ihren
Augenhöhlen, Würmer krochen über das
pergamentartige Gesicht. Die Lippen waren verätzt und
enthüllten Zahnstummel. Doch das Schlimmste war, dass Arved
nun, da die Gestalt Substanz angenommen hatte, genau wusste, wer
sie war.
    Er blickte in sein eigenes Zerrbild.
    Die Gestalt lachte lautlos.
    Arved wich noch einen Schritt zurück.
    Während Victor auf der Plattform stehen blieb,
erkletterte das andere Wesen die Mauerkrone.
    Jetzt stand Arved hart am Abgrund.
    Das Wesen griff nach ihm. Er erkannte an ihm seine eigenen
Finger, wurstig, rund, doch mit schwarzen, abscheulich langen
Nägeln. Schon ritzte einer der Nägel ihm das Fleisch
oberhalb des rechten Knöchels.
    Noch ein Schritt – ins Bodenlose.
    Er warf die Arme hoch. Etwas ergriff sie. Es schmerzte
höllisch. Er rutschte ab. Schlug von außen gegen die
Mauer. Fiel nicht. Etwas zerrte an ihm. Er schaute verwirrt
zuerst hinunter in den schwindelnden Abgrund, dann hoch.
Hände hielten seine eigenen Hände. Keine Hände
eines Unwesens. Menschliche Hände. Liobas Hände. Und
darüber stieg etwas in die Luft, zwei schwarze Wolken, die
sich hoch oben vereinten.
    Arved fand Halt an einem der unebenen Bruchsteine, und nach
einer Weile angstvollem Andrücken und Ziehen stand er
endlich wieder auf der Mauerkrone. Mit zitternden Knien sprang er
auf die Plattform. Lioba fing ihn auf. Sie umarmte ihn,
streichelte ihm über den schütteren Haarschopf und
küsste ihn hungrig, als wolle sie ihn in sich aufsaugen und
nie wieder aus sich herauslassen.
    Die schwarze Wolke zerplatzte, und schwarze Tropfen regneten
auf die beiden herab, die in ihrer Umarmung erstarrt waren.

 
24. Kapitel
     
     
    Auf dem Weg zurück in den Ort waren Arved und Lioba in
Gedanken versunken. Arveds Knie fühlten sich an, als
wären sie aus Butter, die langsam an der Sonne schmolz. Doch
da war keine Sonne mehr. Inzwischen hatte Regen eingesetzt und
wusch die seltsamen schwarzen Tropfen restlos ab, sodass Arved
nach wenigen Minuten nicht mehr zu sagen vermochte, ob sie real
oder eingebildet gewesen waren. Der Regen tropfte aus seinen
Haaren, von denen einige ihm in wirren Strähnen ins Gesicht
hingen.
    Auch Liobas Blut wurde abgewaschen. Als sie durch den Regen
schritten, war es Arved, als gingen sie durch ein reinigendes
Bad. Der LKW stand nicht mehr auf dem Parkplatz.
    Erst als sie ganz Manderscheid durchquert hatten und in seiner
Straße angekommen waren, fragte Lioba: »Warum bist du
auf die Brüstung geklettert?«
    Arved bedachte sie mit einem Blick des Unverständnisses.
»Hast du sie nicht gesehen?«
    »Wen?«
    Das war Antwort genug. Er tastete nach seinen Schlüsseln,
legte die restlichen Meter schweigend zurück und
öffnete die Haustür. »Komm herein, trockne dich
ab«, sagte er. Sie blieb in der Diele stehen, sah ihn an.
»War es Victor?«, fragte sie leise.
    Arved nickte. »Und noch jemand.«
    »Wer?«
    »Das ist jetzt unwichtig.« Ein Schauer kroch
über Arveds Rücken, als er an sein verzerrtes,
höllenhaftes Spiegelbild dachte. »Es ist vorbei. Hast
du auch bemerkt, dass der Lastwagen verschwunden ist?«
    »Ja.«
    »Wenn du mich nicht festgehalten hättest, wäre
ich jetzt tot.«
    Lioba nahm ihn in den Arm und drückte ihn. »Was
hältst du davon, wenn wir gemeinsam unter die Dusche
gehen?«, fragte sie. Im Blick ihrer dunklen, beinahe
schwarzen Augen lag etwas Schelmisches.
    Arved grinste.
    Sie duschten gemeinsam und liebten sich im Stehen unter dem
prasselnden Wasser. Danach lagen sie eng aneinander gekuschelt in
Arveds Einzelbett. »Jetzt ist noch eine Geschichte
offen«, sagte er ängstlich und hielt Lioba fest im
Arm.
    Sie schmiegte sich an ihn. »Ist das überhaupt
passiert?«, fragte sie. »Du hast geglaubt, etwas zu
sehen. Vielleicht waren es nur deine überreizten Sinne. Das
wäre kein Wunder, wenn man bedenkt, was uns heute schon
alles zugestoßen ist.«
    Arved drückte sie ein wenig von sich und winkelte das
rechte Bein an. Kurz oberhalb des Knöchels befand sich eine
gerötete Ritzung. »Siehst du das? Das war er.«
    »Kann das nicht bei dem Beinahe-Sturz geschehen
sein?«, wandte Lioba ein.

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