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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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eine
unangenehme innere Spannung. Nichts hatte sich seit gestern Abend
verändert. Immerhin war es das erste Mal, dass sie allein in
diesem Haus war. Sie musste über sich selbst lachen. Sie
wollte lachen, aber sie brachte nur einen abgerissenen,
erstickten Laut hervor. Es würde ihr besser gehen, wenn sie
mit Arved sprach. Also ging sie in die Diele und nahm den
Telefonhörer ab.
    Die Leitung war tot. Es war, als hauche sie der Atem des
Nichts an.
    Wieder dieses Rascheln und Wispern und Kratzen und Wischen und
Schlurfen, diesmal aus dem Wohnzimmer.
    Ihr erster Impuls war, das Haus zu verlassen und einen langen
Spaziergang zu machen; Arved würde sicherlich erst in ein
paar Stunden wiederkommen. Doch der Schlüssel, den er ihr
gegeben hatte, lag im Wohnzimmer auf dem Tisch, und sie wollte
nicht ohne Schlüssel aus dem Haus gehen. Lange stand sie
unschlüssig in der Diele. Die Geräusche waren deutlich
zu hören. Dann brachen sie plötzlich ab. Es war, als
flute die Stille zurück in das Haus.
    Lioba schüttelte den Kopf. Vielleicht waren es
Mäuse. Arved hatte zwar nie davon erzählt, dass er von
Ungeziefer heimgesucht wurde, aber möglicherweise hatte er
es noch gar nicht bemerkt. Ja, das war die einzige
Erklärung. Grinsend ging sie auf das Wohnzimmer zu, dessen
Tür weit offen stand.
    Aber den Katzen wären die Mäuse nicht entgangen.
Dieser Gedanke kam Lioba zu spät.
    Bevor sie wusste, wie ihr geschah, waren die Schatten
über ihr. Sie wurde in etwas Weiches, nach Abfall und
Verwesung Stinkendes eingehüllt. Es schnürte ihr die
Luft ab. Sie ruderte mit den Armen, trat aus, traf aber
niemanden. Etwas hielt sie fest, aber es waren keine Arme. Es war
etwas Zähes, Klebriges, Gummiartiges. Sie konnte nichts
sehen. Die Schwärze in dem Sack – oder was immer man
ihr übergestülpt hatte – verschlang jedes Bild,
außer denen in ihrem Kopf.
    Sie spürte, wie sie in die Luft gehoben wurde. Sie
strampelte, es war sinnlos. Sie hätte genauso gut gegen eine
Wolke kämpfen können. Dann überwältigte sie
der Gestank. Sie musste würgen, konnte sich aber nicht
übergeben. Die Schwärze vor ihren Augen sickerte bis in
ihren Schädel hinein. Sie verlor das Bewusstsein.
    Das Nächste, was sie wahrnahm, war ein leiser Luftzug um
die Fußknöchel. Sie stellte fest, dass sie saß.
Man hatte ihr die Hände hinter dem Rücken
zusammengebunden. Noch immer sah sie nichts; der stinkende Sack
hing über ihrem Kopf wie eine schreckliche Drohung. Dann
endlich hob sich die Dunkelheit – und wurde durch eine neue
Dunkelheit ersetzt. Doch diese war nicht so allumfassend, nicht
alles erstickend. Einzelne Sterne durchglommen sie. Der Himmel,
in dem die Sterne leuchteten, war seltsam nah. Es war, als sei
Lioba ins Unermessliche gewachsen und stoße beinahe an das
Himmelsgewölbe. Auch die Sterne waren zum Greifen nah. In
einiger Entfernung vor ihr war die Welt zu Ende. Eine Wand erhob
sich dort, und schwächere Sterne glänzten überall
in ihr. Sie glitzerten in einem stetigen Licht, während die
anderen Sterne flackerten und zuckten. Sagte man nicht, dass die
Schwarzen Löcher in den Tiefen des Universums das Licht
ablenkten? War es so etwas?
    Ungeheurer Hall durchjagte das Weltall. Die Sternenwinde
drohten das Licht zu schlucken. Lioba kniff die Augen zusammen.
Der Himmel über ihr war schwarz und grau und schartig. Und
die Sterne waren keine Sterne, sondern Kerzen. Dicke
Wachsstämme erhoben sich aus dem Boden oder standen auf
kleinen Konsolen an der Wand. An der Höhlenwand. Sie befand
sich in einem unterirdischen Raum. Was es mit der Wand vor ihr
auf sich hatte, konnte sie jedoch noch nicht deutlich
erkennen.
    Zwei Schemen traten rechts und links neben die Wand. Sie waren
nicht mehr als Schatten, unkörperlich. Doch ihre Gegenwart
bewirkte, dass Lioba die Wand nun deutlicher sah, vielleicht weil
das Licht nun anders auf sie fiel.
    Es war eine Bretterwand, etwa zwei Meter hoch und zwei Meter
breit. Und das, was sie zuvor für Sterne angesehen hatte,
waren Messerklingen. Unzählige Messerklingen. Die Wand stand
auf zwei blitzenden Metallrädern, deren Laufschienen auf den
Stuhl zuführten, auf dem Lioba saß.
    Die zweite Geschichte. Vor des Messers Schneide.
    Jetzt traten die beiden Schemen näher an Lioba heran. So
nahe, dass sie sie erkennen konnte. Sie hielt vor Entsetzen den
Atem an. Der Brandgeruch war überwältigend.

 
25. Kapitel
     
     
    Arved war genauso

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