Das Schattenbuch
vorbei
zur Ober- und zur Niederburg führte. Bald kamen die beiden
Ruinen in Sicht. Die Niederburg, von der noch weitaus mehr
erhalten war, lag tief im Tal der Lieser; die trutzigen Mauern
schmiegten sich über den Bergrücken, als seien es
Tatzelwürmer auf der Suche nach Beute. Die Oberburg hingegen
war ein Bild überwundener Macht. Nur der Bergfried, die
Wehrmauern und ein Teil eines kleineren Turmes standen noch. Sie
thronte hoch über der Niederburg. Die Lieser floss zwischen
ihnen hindurch, unsichtbar von dieser Stelle aus, wo die beiden
Steinmassen wie sich belauernde, sprungbereite Tiere wirkten.
Arved schritt vorsichtig über den steinigen Pfad bis zur
Abzweigung, wo es rechts zur Niederburg ging. Geradeaus, wieder
ein wenig bergan, führte der Weg durch ein
Tannenwäldchen zum Tor der Oberburg. Dort wartete sein
Schicksal auf ihn.
Nach den ersten Schritten blieb er stehen. Der Weg war wieder
einmal so schmal, dass Lioba und er nicht nebeneinander hergehen
konnten. »Sollen wir wirklich…«, begann
er.
»Was ist die Alternative?«, fragte Lioba.
»Wenn wir jetzt umkehren, wird das alles nie ein Ende
haben.« Ihre Stimme war leise, und ihre ganze
Körperhaltung sprach ihren Worten Hohn. »Es kann uns
überall holen. Das haben wir doch eben auf der Straße
bemerkt.«
Arved ging weiter. Mit jedem Schritt wurden seine Beine
schwerer. Mit jedem Schritt wurde es dunkler. Er schaute verdutzt
in den Himmel. Die Sonne war verschwunden, bleiernes Grau hing
über der Welt. Sie schritten durch den mit Efeu bewachsenen
Torbogen, weiter hinauf zu der Wiese vor dem Bergfried. Niemand
war hier. Arved ging bis zur Wehrmauer und schaute hinunter. Auf
dem Bergfried der Niederburg befanden sich einige Besucher. Lioba
stellte sich neben ihn und bemerkte sie auch. »Bist du
sicher, dass es die Oberburg war, zu der Abraham uns geschickt
hat?«
Arved kramte in der Hosentasche nach dem Zettel. Er zog ihn
hervor, faltete ihn auseinander und glättete ihn.
Er war leer.
Beide Seiten waren weiß, jungfräulich; nur die
Falten und Knicke durchliefen das Papier.
»Das… das…«, stotterte Arved.
»Das kann doch nicht sein!«
Das weiße Papier schien ihn zu verhöhnen. Er wusste
genau, dass auf dem Blatt die Worte Oberburg, Manderscheid gestanden hatten. Wieso sonst hätte er sie hierher
geführt. Er drehte sich zu Lioba um.
Sie war verschwunden.
Er lief an der gesamten Mauer auf und ab.
»Lioba!«, rief er. »Lioba!«
Keine Antwort. Dann schaute er hoch zum Bergfried, weil er aus
den Augenwinkeln dort oben eine Bewegung zu sehen geglaubt hatte.
Ja, es war Lioba. Sie winkte ihn heftig heran. Er hastete zum
Eingang des Bergfrieds, flog die Stufen hinauf, die teils aus
Stein, teils aus Holz bestanden und verflucht steil und eng
waren. Schon auf dem ersten Absatz war er außer Atem. Er
blieb stehen und rief hoch: »Lioba?« Es kam keine
Antwort. Er schien allein hier zu sein, allein auf der ganzen
Burg, allein auf der Welt. Er riss sich zusammen und kletterte
weiter nach oben.
Endlich war er auf der Aussichtsplattform des Bergfrieds
angekommen. Niemand sonst befand sich hier oben. Keuchend stand
Arved da, drehte sich um die eigene Achse – nichts. Doch
Geräusche drangen aus dem Inneren des Turms zu ihm. Das
musste Lioba sein. Er ging zu dem kleinen Verschlag, der
über dem Ende der Treppe errichtet war, und rief hinunter:
»Lioba?«
Jemand erkletterte die letzte Treppe. Arved wich zurück.
Es war nicht Lioba. Es war Abraham Sauer. Arved drückte sich
in eine Ecke des Turms und spürte schmerzhaft die unebene
Wand im Rücken. Abraham Sauer kam mit langsamen, entsetzlich
zielstrebigen Schritten auf ihn zu. Dann verwandelte er sich. Es
war nicht mehr der alte Anwalt, es war die Gestalt mit dem
Haarschleier. Mit einer dürren Hand schob sie sich die Haare
aus dem Gesicht.
Es war Victor. Arved war nicht überrascht.
»Ich habe dir gesagt, dass es dir noch einmal Leid tun
wird«, sagte die Gestalt mit einer blubbernden Stimme, als
spreche sie durch Schleim und Auswurf. »Heute ist der
Tag.« Nun war sie nur noch wenige Schritte von ihm
entfernt.
Aus ihr wuchs etwas hervor. Eine zweite Gestalt. Es war nicht
Sauer, es war jemand anderes, den Arved ebenfalls zu kennen
glaubte. Noch war die Gestalt so dünn wie ein Seidenschleier
und zuckte und zitterte, sodass sie nicht deutlich zu sehen war.
Gemeinsam legten die beiden die letzten Meter zu ihm zurück.
Er
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