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Das Schatzbuch der Köchin (German Edition)

Das Schatzbuch der Köchin (German Edition)

Titel: Das Schatzbuch der Köchin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martine Bailey
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leise und weit entfernt. Das Schreien eines Babys.
    Lautlos lief er den Weg zu seiner Hütte und holte die Harpune. Sie lag vertraut in seiner Hand. Sobald er draußen war, folgte er dem Weinen des Babys und kroch durchs Unterholz. Als er näher kam, gesellte sich ein anderer Laut zu dem hoffnungslosen Weinen. Ein Krachen und ein donnerndes Poltern. Jemand bewegte dort irgendetwas. Drüben bei den dornigen Bäumen, die den Steingarten umgaben.
    Der schwache Schein einer Laterne, die jemand auf den Boden gestellt hatte, half ihm, sie zu finden. Er blieb etwa zwanzig Schritte entfernt im Schutz eines dicken Baumes stehen. Jetzt konnte er hören, wer da stöhnte und schnaufte. Es war Mr. Pars, der in einem tiefen Loch stand und Erde nach oben schaufelte. Das Baby befand sich in der Nähe im Gebüsch. Sein Weinen war zu einem herzzerreißend hoffnungslosen Maunzen verkümmert.
    Loveday glaubte, er sei in das Königreich der Träume gestürzt. Seine rechte Hand packte den Schaft der Harpune fester. Der Ambrageruch stieg ihm wie Meerwasser in die Nase und raubte ihm den Atem. Der weiße Mann, der das Loch aushob, hatte breite Schultern, harte Gesichtszüge und bestand halb aus Schatten. Der Name, den er dem ersten weißen Mann gegeben hatte, den er je sah, kam ihm wieder in den Sinn. Narbengesicht. Der weiße Mann hatte seinen Stamm ermordet und seine geliebte Bulan und Burat versklavt.
    Lovedays Hand begann zu zittern. Der Schreck jener letzten Nacht auf Lamahona packte ihn wieder. Als er Narbengesicht hatte angreifen wollen, hatte der Mann einen schrecklich dröhnenden Lärm gemacht und ihm ein Loch in die Schulter gerissen. Die Erinnerung an jene Nacht ließ seine Knochen so weich wie Seetang werden. Seine Handflächen waren schweißnass, und die Harpune drohte, ihm zu entgleiten.
    Ich bin ein Feigling, schalt er sich. Ich muss schnell, schnell im Schutz der Bäume verschwinden, bevor er mich sieht. Die Götter haben mich bestraft, weil ich nicht den Mut habe, wie ein Mann zu handeln. Nichts hat sich verändert. Er hob den Fuß und wollte sich abwenden.
    In diesem Moment tauchte der Mond hinter dem Wolkenschleier auf und schien triumphierend auf ihn nieder. Das Loch in der Erde, das Baby, das verzerrte Gesicht des weißen Mannes – das alles zeichnete sich in grellem Weiß von der Dunkelheit ab. Zum ersten Mal bemerkte er ein Stoffbündel, das im Gras lag, nur wenige Schritte von dem Loch entfernt. Der Stoff war zerknittert, und in der Mitte sah er ein blasses Gesicht. Dieses Gesicht gehörte zu Biddy. Sie lag leblos wie ein alter Sack auf der Erde.
    Dann hob der weiße Mann den Kopf, und im Mondlicht funkelten seine Augen. Der weiße Mann entdeckte ihn, und seine bösartigen Augen waren wie funkelnde Messer, die einem in den Bauch fuhren und die Eingeweide herausholten, bis man nur noch eine leblose Hülle war.
    «Hey!», schrie der Mann. «Verschwinde! Geh zurück zum Haus, du schwarzer Hund!»
    Loveday erstarrte mitten in der Bewegung. Weißer Mann. Schwarzer Hund. Der süßliche Geruch von Ambra prickelte in seinem Schädel. Statt Angst erhob sich eine andere, hämmernde Kraft. Sie strömte durch seine Venen wie das ungeduldige Schnauben eines Wals. Er hatte seine Frau verloren. Er hatte seinen Sohn verloren. Und jetzt sollte er seine einzige Freundin verlieren. Biddy.
    Sein Herz hämmerte, in den Ohren summte es. Sein Verstand arbeitete wie ein Berg, ehe er Feuersteine spie. Grausame Erinnerungen schossen durch seinen Kopf. An jene Schläge, die er von einem Damong hatte einstecken müssen, an jeden Teufel, der ihn Blödmann nannte – er würde sie alle niederschlagen. Er drehte sich wieder um und starrte den bösen weißen Mann an. Er, Keraf, der Vater von Burat, hob seine Harpune mit dem starken rechten Arm und zielte auf das hässliche Schrei-Schrei-Gesicht des Mannes. Dann ließ er die Harpune los, und sie flog davon wie ein Vogel.
    Der weiße Mann versuchte noch, wegzuspringen und sich zu ducken. Dann jedoch wurde sein Herz durchstoßen, und er fiel rücklings in das Loch.
    Ich töten ihn, dachte Keraf. Jetzt ich keine Angst, nie wieder.

XXXV
    K eraf hatte die ganze Nacht neben dem Leichnam seiner Herrin gewacht. Er hatte sie gegen die bösen Geister verteidigt, die frei herumstreiften, nachdem zwei unheilige Todesfälle einen Riss zwischen der Welt der Lebenden und der Toten geschaffen hatten. Letzte Nacht hatte er Mr. Pars in dem Loch begraben und die Harpune neben ihn gelegt, die dem bösen Mann das

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