Das Schicksal in Person
weißen Blüten, nicht wahr?«
»Wir haben übrigens noch einen sehr hübschen Magnolienbaum unten links am Weg«, sagte Anthea hastig. »Früher war hier, glaube ich, auch noch eine sehr schöne Rabatte, aber auch die haben wir nicht richtig pflegen können. Es war zu schwierig. Alles ist zu schwierig. Nichts ist so wie früher – alles ist verdorben, überall.«
Sie beschleunigte ihren Schritt, so dass Miss Marple kaum folgen konnte. Als ob sie ihren Gast so schnell wie möglich von dem Polygonumhügel wegbringen wollte! Als sei damit irgendetwas Unangenehmes oder Hässliches verbunden. Ob sie sich schämte, dass der einstige Glanz vergangen war?
Miss Marples Aufmerksamkeit wurde auf einen verfallenen Schweinestall gelenkt, an dem sich Rosen emporrankten.
»Mein Großonkel hat immer ein paar Schweine gehalten«, erklärte Anthea. »Heute würde natürlich niemand mehr auf so einen Einfall kommen. Schon allein die Geräusche! Beim Haus haben wir einige Floribunda-Rosen. Die sind so praktisch heute, bei all den Schwierigkeiten.«
»Ja, ich weiß«, sagte Miss Marple.
Sie zählte ein paar Rosenarten auf, die in den letzten Jahren gezüchtet worden waren, doch keiner der Namen schien Anthea ein Begriff zu sein.
»Machen Sie diese Reisen oft mit?«, fragte Anthea plötzlich.
»Sie meinen die Reisen von Houses and Gardens?«
»Ja. Manche Leute fahren jedes Jahr.«
»Nein, das könnte ich nicht. Dazu sind sie zu teuer. Es war das Geschenk eines Freundes, zu meinem nächsten Geburtstag.«
»Ich habe mich schon gefragt, weswegen Sie hierher gekommen sind. Ich meine – es ist doch sehr anstrengend. Aber wenn Sie so weite Reisen machen wie nach Westindien und – «
»Die Reise nach Westindien war auch ein Geschenk. Von einem Neffen. Ein lieber Junge. An seine alte Tante zu denken…«
»Ach, so ist das.«
»Ich weiß nicht, was wir ohne die junge Generation machen sollten«, sagte Miss Marple. »Sie sind so nett, die jungen Leute, finden Sie nicht?«
»Ich – vermutlich. Ich weiß es nicht. Wir haben keine jungen Verwandten.«
»Hat Ihre Schwester, Mrs Glynne, keine Kinder?«
»Nein. Ihr Mann und sie hatten keine Kinder. Das ist vielleicht ganz gut so.«
Was sie damit wohl meint? fragte sich Miss Marple, als sie nun zum Haus zurückkehrten.
9
A m nächsten Morgen um halb neun klopfte es leise an die Tür, und auf Miss Marples »Herein« betrat eine ältere Frau das Zimmer. Sie brachte ein Tablett mit einer Teekanne, einer Tasse, einem Milchkännchen und einem Teller mit Brot und Butter.
»Der Morgentee, Madam«, sagte sie fröhlich. »Das Wetter ist heute sehr schön. Ich sehe, Sie haben Ihre Vorhänge schon aufgezogen. Haben Sie gut geschlafen?«
»Ja, sehr gut«, sagte Miss Marple und legte ein kleines Andachtsbuch weg, in dem sie gerade gelesen hatte.
»Wirklich ein schöner Tag. Besonders für die, die heute den Ausflug zu den Bonaventure-Felsen machen. Doch Sie haben Recht, dass Sie hier bleiben. Es ist sehr anstrengend.«
»Ja, ich bin sehr glücklich, dass ich hier sein kann«, sagte Miss Marple. »Es war so nett von Miss Bradbury-Scott und Mrs Glynne, mich einzuladen.«
»Für die Damen selbst ist es auch nett. Es heitert sie etwas auf, wenn sie ein bisschen Gesellschaft haben. Es ist ja jetzt so traurig hier.«
Sie zog die Vorhänge zurecht, schob einen Stuhl zurück und stellte eine Kanne mit heißem Wasser in das Porzellanwaschbecken.
»Im nächsten Stock ist ein Badezimmer«, sagte sie. »Aber wir glauben, dass es für ältere Leute bequemer ist, das heiße Wasser auf dem Zimmer zu haben. Wegen der Treppen.«
»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen. Sicher kennen Sie dieses Haus sehr gut?«
»O ja, ich war schon als junges Mädchen hier. Damals war ich Dienstmädchen. Sie hatten früher drei Angestellte, eine Köchin, ein Hausmädchen, ein Stubenmädchen und einmal auch ein Küchenmädchen. Das war noch zur Zeit des alten Colonels. Er hat auch Pferde gehalten und einen Burschen. Ja, das waren noch Zeiten. Und dann sind all diese traurigen Dinge passiert. Er hat seine Frau sehr früh verloren. Sein Sohn fiel im Krieg, und seine Tochter hat nach Neuseeland geheiratet. Sie ist bei der Geburt des Kindes gestorben, und das Kind war auch tot. Es war für ihn sehr traurig, so allein hier zu wohnen. Er hat das Haus verkommen lassen – es wurde nicht so gepflegt, wie es hätte sein sollen. Als er starb, hinterließ er den Besitz seiner Nichte, Miss Clotilde, und ihren beiden
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