Das Schicksal in Person
war ganz froh, dass sie noch keiner der drei Schwestern begegnet war. Sie brauchte jetzt ein wenig Ruhe, um sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, was ihr Janet vorhin erzählt hatte.
Ein kleines Seitentor stand offen, und Miss Marple trat hinaus auf die Straße. Sie kam an ein paar kleinen Läden vorbei und schlug dann den Weg zur Kirche und zum Friedhof ein. HueyAn ihrem Ziel stieß sie das Friedhofstor auf und begann zwischen den Gräbern herumzuwandern. Bestimmte Namen, stellte sie fest, kamen immer wieder vor, wie es in kleinen Orten üblich war. Viele Leute hießen Prince, darunter war auch eine Melanie Prince, die nur vier Jahre alt geworden war. Dann eine Familie Broad, Hiram Broad, Ellen Jane Broad und Eliza Broad mit einundneunzig Jahren. Sie war gerade dabei, sich einem anderen Grab zuzuwenden, als sie einen alten Mann entdeckte, der langsam zwischen den Gräbern herumging und sich ab und zu nach einem Unkraut bückte. Er begrüßte sie mit einem »Guten Morgen«.
»Guten Morgen«, erwiderte Miss Marple. »Ein schöner Tag heute.«
»Ja, aber es wird noch regnen.« Er sagte das mit der größten Überzeugung.
»Hier liegen viele Princes und Broads begraben«, sagte Miss Marple.
Der Alte nickte bedeutungsvoll.
»Ja, Princes hat es hier immer gegeben. Die haben mal sehr viel Land gehabt. Broads gab es auch ne ganze Weile.«
»Ich habe gesehen, dass hier auch ein Kind begraben ist. Das ist immer so traurig, ein Kindergrab.«
»Das wird wohl die kleine Melanie gewesen sein. Mellie haben wir sie genannt. Ja, das war ein trauriger Tod. Sie ist überfahren worden. Dabei war sie nur über die Straße gelaufen, um sich im Laden Bonbons zu holen. Es passiert heute so viel, mit den Autos.«
»Traurig«, sagte Miss Marple, »dass immer so viele Leute sterben. Und man merkt das erst richtig, wenn man auf den Friedhöfen all die Inschriften liest. Krankheit, Alter, Verkehrsunfälle und manchmal noch schlimmere Dinge. Junge Mädchen, die getötet werden. Verbrechen, meine ich.«
»Ja, das kommt oft vor. Dumme Mädchen, das sind die meisten von ihnen. Und die Mütter haben heute keine Zeit, ordentlich auf sie aufzupassen, weil sie soviel arbeiten gehen.«
Miss Marple war ähnlicher Ansicht, aber sie hatte keine Lust, mit einem Gespräch über dieses Thema Zeit zu verlieren.
»Sie wohnen doch im Old Manor House, nicht wahr?«, fragte der alte Mann. »Ich hab gesehen, wie Sie mit der Reisegesellschaft angekommen sind. Ist das nicht zu anstrengend für Sie?«
»Ja, es ist tatsächlich ziemlich anstrengend«, gab Miss Marple zu. »Ein sehr guter Freund von mir, Mr Rafiel, hat aber vorgesorgt. Er hat seinen Freunden hier geschrieben, und die haben mich eingeladen, ein paar Tage bei ihnen zu bleiben.«
Der Name Rafiel schien dem alten Gärtner nichts zu sagen.
»Mrs Glynne und ihre beiden Schwestern sind sehr freundlich gewesen«, sagte Miss Marple. »Ich glaube, sie leben schon lange hier.«
»Seit zwanzig Jahren. Das Haus gehörte früher dem alten Colonel Bradbury-Scott. Er war siebzig, als er starb.«
»Hatte er Kinder?«
»Ja, einen Sohn. Er ist im Krieg gefallen. Deswegen hat er den Besitz seinen Nichten hinterlassen. Sonst hat er niemand gehabt.«
Der Alte machte sich jetzt wieder an die Arbeit, und Miss Marple ging in die Kirche. Die Renovierung aus Viktorianischer Zeit, so stellte sie fest, hatte mit der Vergangenheit gründlich aufgeräumt. Außer einigen alten Grabplatten war aus früheren Jahrhunderten nichts mehr vorhanden.
Miss Marple setzte sich auf einen der unbequemen Kirchenstühle und dachte nach.
War sie auf der richtigen Spur? Die Dinge bekamen allmählich einen Zusammenhang, aber klar waren sie ihr immer noch nicht.
Ein junges Mädchen war ermordet worden – offensichtlich sogar mehrere junge Mädchen –, aber das war nun schon zehn oder zwölf Jahre her. Was konnte sie jetzt noch in dieser Sache unternehmen? Was hatte Mr Rafiel von ihr erwartet?
Elizabeth Temple. Sie musste unbedingt noch einmal mit ihr sprechen. Miss Temple hatte von einem jungen Mädchen erzählt, das mit Michael Rafiel verlobt gewesen war. Stimmte das eigentlich? Man hatte ihr im Old Manor House nichts davon gesagt.
Miss Marple wusste, wie sich die Dinge oft zutrugen… Erst lernte der Junge das Mädchen kennen, dann nimmt alles seinen üblichen Lauf, bis das Mädchen entdeckt, dass es ein Kind erwartet. Dann sagt sie dem Jungen, dass sie ihn heiraten möchte. Aber das will er vielleicht gar
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