Das Schicksal in Person
Schwestern. Sie und Miss Anthea kamen dann hierher und später auch Miss Lavinia, als sie ihren Mann verloren hatte.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Sie haben nie viel für das Haus getan, sie konnten es sich nicht leisten. Und der Garten ist dann auch verkommen…«
»Ja, das ist wirklich sehr schlimm«, sagte Miss Marple.
»Und dabei sind es drei so reizende Damen. Miss Anthea ist ja ein bisschen wirr im Kopf, aber Miss Clotilde war auf der Universität und ist sehr intelligent – sie spricht drei Sprachen. Und Mrs Glynne ist auch eine sehr nette Dame. Als sie hierher kam, dachte ich, nun würde alles besser werden. Aber man weiß ja nie, was die Zukunft bringt. Manchmal habe ich das Gefühl, über dem Haus liegt ein Fluch.«
Miss Marple schaute sie fragend an.
»Erst das schreckliche Flugzeugunglück in Spanien, bei dem alle umkamen. Ich würde ja nie in ein Flugzeug steigen, das wäre mir viel zu gefährlich. Miss Clotildes Freunde sind dabei umgekommen, ein Ehepaar. Die Tochter war zum Glück im Pensionat, sonst wäre ihr vielleicht auch noch etwas passiert. Miss Clotilde hat sie dann zu sich genommen. Sie hat sie behandelt wie eine Tochter, hat mit ihr Reisen gemacht, nach Italien und Frankreich, sie hat für sie getan, was sie konnte. Es war so ein glückliches Mädchen – und so lieb. Keiner hätte gedacht, dass so etwas Furchtbares passieren würde – «
»Etwas Furchtbares? Was ist denn geschehen? Hier im Haus?«
»Nein, zum Glück nicht. Aber sie hat ihn hier kennen gelernt. Er wohnte in der Nähe – und die Damen kannten seinen Vater. Ein sehr reicher Mann. Er kam zu Besuch, und so fing alles an.«
»Sie haben sich verliebt?«
»Ja, Hals über Kopf. Er war ein gut aussehender Junge, charmant und unbekümmert. Man hätte nie gedacht – Sie hätten nie geglaubt – « Sie brach mitten im Satz ab.
»Eine große Liebe? Und sie ging nicht gut aus? Das Mädchen beging Selbstmord?«
»Selbstmord?« Die alte Frau schaute Miss Marple entgeistert an. »Wer hat Ihnen denn das erzählt? Mord war es, gemeiner Mord. Erwürgt und dann den Kopf eingeschlagen. Miss Clotilde musste hingehen und sie identifizieren – seitdem ist sie nicht mehr die alte. Man hat ihre Leiche hier in der Umgebung gefunden, etwa dreißig Meilen entfernt. Im Gebüsch eines stillgelegten Steinbruchs. Es soll nicht der erste Mord gewesen sein, der auf sein Konto ging. Es wurden noch andere Mädchen ermordet. Sechs Monate war sie vermisst. Und die Polizei hat alles abgesucht. Nein, er war ein Teufel, schon von Geburt an. Heutzutage behauptet man ja, diese Leute wären nicht für ihre Taten verantwortlich, sie wären nicht ganz richtig im Kopf. Ich glaube kein Wort davon. Mörder sind Mörder. Und sie werden heute ja nicht mal mehr aufgehängt. Ich weiß, in alten Familien gibt es oft Verrückte. Zum Beispiel die Derwents drüben in Brassington, in jeder zweiten Generation starb bei denen jemand im Irrenhaus; oder die alte Mrs Paulett, die immer mit ihrer Diamantkrone auf dem Kopf herumirrte und glaubte, sie wäre Marie Antoinette. Aber die war ja keine Verbrecherin, nur eben etwas verrückt. Aber der Junge, der war wirklich ein Teufel.«
»Was ist mit ihm passiert?«
»Zu der Zeit hatte man das Aufhängen schon verboten, oder er war vielleicht auch zu jung. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Man hat ihn schuldig gesprochen. Dann kam er ins Gefängnis. Bostol oder Broadsand…«
»Wie hieß er?«
»Michael. Den Nachnamen weiß ich nicht mehr. Es ist ja auch schon zehn Jahre her. Irgendetwas Italienisches, wie ein Malername. Raffle – so ähnlich.«
»Michael Rafiel?«
»Ja, richtig. Angeblich soll ihn sein Vater aus dem Gefängnis rausgeholt haben, denn er hatte viel Geld. Eine Flucht, wie die Bankräuber. Aber ich glaube, das war nur ein Gerücht.«
Also war es kein Selbstmord gewesen. Es war Mord. »Liebe« hatte Elizabeth Temple gesagt. In einer Hinsicht hatte sie Recht: Ein junges Mädchen hatte sich in einen Mörder verliebt und war aus Liebe zu ihm ahnungslos in den Tod gegangen.
Miss Marple schauderte.
Miss Marple kam an diesem Morgen früher die Treppe herunter, als man wohl erwartet hätte, denn sie fand unten keine ihrer Gastgeberinnen vor. Sie ging in den Garten und machte einen kleinen Rundgang. Zwar hatte sie diesen Garten nicht besonders schön gefunden, doch sie hatte irgendwie das Gefühl, dass es dort etwas gäbe, was wichtig für sie wäre. Irgendetwas, das ihr weiterhelfen könnte. Sie
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