Das Schicksal in Person
einmal angesehen und festgestellt, dass alle nötigen Beweise vorlagen. Der junge Mann hatte das Mädchen gekannt und war öfter mit ihr gesehen worden. Wahrscheinlich hatten sie auch zusammen geschlafen. Sein Wagen war in der Nähe des Tatorts gesehen worden, und man hatte ihn selbst auch erkannt. Und so weiter. Offenbar ein ganz gerechtes Urteil. Und doch hatte mein Freund seine Zweifel. Er hat einen besonders gut ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, und er wollte noch eine andere Meinung hören, nicht die der Polizei, sondern eines Mediziners. Das sei mein Gebiet, sagte er. Er wollte, dass ich mit diesem jungen Mann spräche und mir ein Urteil bildete.«
»Sehr interessant«, sagte Miss Marple. »Ja, das ist wirklich sehr interessant.«
»Ich habe den Häftling besucht und ihm erklärt, dass sich die Rechtsverhältnisse ändern könnten, dass es vielleicht möglich wäre, für ihn einen Anwalt, einen Kronanwalt zu bekommen, der sich seiner annähme. Ich habe mit ihm wie ein Freund gesprochen, dann aber auch wieder wie ein Gegner, um festzustellen, wie er auf mein verschiedenes Verhalten reagierte. Ich habe ein paar Tests durchgeführt, wie sie heute von uns gemacht werden. Aber es würde zu weit führen, Ihnen das zu erklären.«
»Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
»Ich kam zu der Auffassung, dass mein Freund vielleicht Recht hat«, sagte Professor Wanstead. »Auch ich war der Ansicht, dass Michael Rafiel kein Mörder ist.«
»Und was ist mit dem früheren Verbrechen, das Sie erwähnten?«
»Das sprach natürlich gegen ihn. Für das Urteil der Geschworenen war es aber nicht ausschlaggebend, denn die erfuhren erst davon, als der Richter seine Schlussrede hielt. Doch für den Richter spielte es eine Rolle. Diese Sache sprach gegen ihn, aber ich habe dann selbst ein paar Nachforschungen angestellt. Er hatte ein Mädchen angegriffen. Er hatte es offenbar vergewaltigt, doch er hat nicht den Versuch gemacht, es zu erwürgen. Meiner Ansicht nach – und ich habe eine Menge ähnlicher Fälle vor Gericht erlebt – hat es sich auch nicht um eine wirkliche Vergewaltigung gehandelt. Die Mädchen sind heute viel eher bereit, sich vergewaltigen zu lassen, als früher. Die Mütter verlangen dann oft von ihnen, dass sie es ›Vergewaltigung‹ nennen. Das Mädchen, um das es sich hier handelt, hatte mehrere Freunde – Verhältnisse, die alle über eine bloße ›Freundschaft‹ hinausgingen. Ich glaube nicht, dass diese Sache als Beweis gegen ihn sehr ins Gewicht gefallen ist. Der richtige Mordfall dann – ja, das war wirklich Mord. Aber ich bin aufgrund der Tests – körperlicher, geistiger, psychologischer – allmählich immer mehr zu der Überzeugung gekommen, dass er die Tat nicht begangen haben konnte.«
»Und was haben Sie dann getan?«
»Ich habe mich mit Mr Rafiel in Verbindung gesetzt und habe ihm mitgeteilt, dass ich ihn wegen seines Sohnes sprechen wolle. Ich bin zu ihm gegangen und habe ihm meinen Standpunkt dargestellt und auch den des Direktors. Ich habe ihm erklärt, dass wir keine Beweise hätten, dass man im Augenblick keine Berufung einlegen könne, dass wir aber beide der Ansicht seien, es sei ein Fehlurteil ausgesprochen worden. Ich sagte ihm, dass man möglicherweise neue Untersuchungen anstellen, dass es eine teure Angelegenheit werden könne, dass sich aber dabei bestimmte Tatsachen ergeben könnten, die man dem Innenministerium vorlegen könne. Die Untersuchungen könnten erfolgreich sein; ebenso gut aber auch erfolglos. Vielleicht würde man auf irgendwelche Beweise stoßen, wenn man der Sache nachginge. Ich sagte, dass es eine Menge kosten würde, doch dies dürfe wohl für jemand wie ihn keine Rolle spielen.
Im Laufe des Gesprächs hatte ich schon gemerkt, dass er krank war, sehr krank sogar. Er sagte es mir auch. Er sagte, dass er bald sterben werde. Man habe ihm schon vor zwei Jahren erklärt, dass er nur noch ein Jahr zu leben habe, doch wegen seiner großen körperlichen Kräfte habe er länger durchgehalten. Ich fragte ihn dann, wie er über seinen Sohn denke.«
»Und was sagte er?«, fragte Miss Marple.
»Das möchten Sie gerne wissen! Ja, mich hat es auch interessiert. Er war sehr ehrlich, wenn auch – «
»Unbarmherzig?«
»Ja, Miss Marple. Das ist der richtige Ausdruck. Er war ein unbarmherziger Mann, aber auch ein gerechter und aufrichtiger Mann. Er sagte: ›Ich weiß schon lange, was mit meinem Sohn los ist, aber ich habe nicht versucht, ihn zu ändern, denn ich
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