Das Schicksal in Person
glaube nicht, dass irgendjemand ihn ändern kann. Er ist eben so veranlagt. Er ist verdorben, er ist ein Nichtsnutz. Er wird immer wieder in Schwierigkeiten geraten. Er ist unehrlich. Niemand wird ihn auf den rechten Weg bringen können, davon bin ich überzeugt. In gewisser Beziehung fühle ich mich nicht mehr verantwortlich für ihn. Natürlich nicht rechtlich und nach außen hin. Er hat immer Geld bekommen, wenn er welches brauchte. Oder juristischen Beistand. Ich habe immer getan, was ich konnte. Wenn ich einen Sohn hätte, der zum Beispiel Spastiker wäre oder Epileptiker, würde ich auch tun, was ich könnte. Wenn man einen Sohn hat, der, sagen wir mal, moralisch krank ist und für den es keine Hilfe gibt, dann tut man für ihn auch alles nur mögliche. Nicht mehr und nicht weniger. Was kann ich jetzt für ihn tun?‹
Ich sagte ihm, dass es davon abhänge, was er tun wolle. ›Das ist kein Problem für mich‹, sagte er. ›Ich möchte, dass er rehabilitiert wird, dass er aus der Haft entlassen wird. Ich möchte, dass er freikommt, um sein eigenes Leben zu leben, so gut er es eben kann. Wenn es aus noch mehr Unehrenhaftigkeit besteht, so ist das seine Sache. Ich werde Vorsorge treffen, dass alles für ihn getan wird, was getan werden kann. Ich möchte nicht, dass er weiter leiden und wegen eines Irrtums im Gefängnis sitzen muss. Wenn irgendjemand anderes, ein anderer Mann dieses Mädchen getötet hat, soll das bekannt und anerkannt werden. Ich möchte Gerechtigkeit für Michael, aber ich bin hilflos, ich bin sehr krank. Meine Tage sind gezählt. Es sind nicht mehr Jahre und Monate, sondern nur noch Wochen.‹
Ich schlug ihm eine Anwaltsfirma vor, die ich kenne, doch er winkte ab. ›Ihre Anwälte sind nutzlos. Sie können sie engagieren, aber sie sind nutzlos. Nein, ich muss es anders versuchen.‹ Er bot mir ein sehr hohes Honorar an, damit ich alles unternehmen könnte, um die Wahrheit herauszufinden. ›Ich selbst kann nichts tun, der Tod kann jeden Augenblick kommen. Ich gebe Ihnen alle Vollmachten und werde Ihnen noch jemand nennen, der Sie unterstützen kann.‹ Er schrieb einen Namen auf: Miss Jane Marple. Dann sagte er: ›Ich möchte Ihnen ihre Adresse nicht verraten. Sie sollen woanders mit ihr zusammenkommen.‹ Und dann erzählte er mir von dieser bezaubernden, harmlosen, unschuldigen Tour der Houses and Gardens. Er würde für mich einen Platz reservieren. ›Miss Jane Marple‹, sagte er, ›wird auch mitfahren. Sie werden sie bei der Gelegenheit kennen lernen, und so wird alles wie eine ganz zufällige Begegnung aussehen.‹
Er überließ es mir, die Zeit und den Augenblick zu bestimmen, mich mit Ihnen bekannt zu machen; oder, wenn ich es für besser hielte, es auch gar nicht zu tun. Sie haben mich gefragt, ob ich oder der Gefängnisdirektor irgendjemand verdächtigen.
Mein Freund hat natürlich keine Hinweise gegeben, aber er hat sich in dieser Sache mit dem Polizeibeamten in Verbindung gesetzt, der den Fall damals bearbeitet hat. Ein sehr zuverlässiger Mann mit viel Erfahrung.«
»Und es wurde kein anderer Name erwähnt? Es gab keinen anderen Freund dieses Mädchens?«
»Nein. Ich bat Mr Rafiel, mir etwas über Sie zu erzählen, aber er wollte nicht. Er sagte mir nur, dass Sie eine ältere Dame seien. Dass Sie sich mit Menschen auskennen. Und dann sagte er noch etwas.«
Professor Wanstead schwieg.
»Was denn?«, fragte Miss Marple. »Ich habe eine gewisse natürliche Neugierde, aber ich kann mir nicht vorstellen, was ich sonst noch für eine nützliche Gabe haben könnte. Im Gegenteil – ich bin etwas taub, und meine Augen sind auch nicht mehr das, was sie waren. Aber ich sehe ein bisschen verrückt und einfältig aus, und das ist vielleicht ein Vorteil. War es das, was er Ihnen sagte?«
»Nein«, antwortete Professor Wanstead. »Er meinte, dass Sie ein sehr feines Empfinden für das Böse hätten.«
»Oh«, machte Miss Marple verblüfft.
Professor Wanstead beobachtete sie.
»Sind Sie auch der Ansicht?«, fragte er.
Miss Marple schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Vielleicht stimmt es, ja, vielleicht hat er Recht. Es gab öfter Situationen in meinem Leben, da habe ich gespürt, dass etwas Böses in der Luft hing oder um einen Menschen war. Das war in ganz bestimmten Situationen.«
Sie schaute ihn lächelnd an und sagte: »Es ist ähnlich wie bei einem Menschen, der einen besonders guten Geruchssinn besitzt. Manche Leute riechen es gleich, wenn irgendwo Gas ausströmt, andere
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