Das Schicksal in Person
veranlagt, das steht fest. Er hat sich verschiedenen Banden angeschlossen, war in Schlägereien verwickelt, hat gestohlen, unterschlagen und betrogen – ein Sohn, der für jeden Vater eine Prüfung sein musste.«
»Jetzt begreife ich!«, sagte Miss Marple.
»Was begreifen Sie, Miss Marple?«
»Nun, ich denke, Sie sprechen von Mr Rafiels Sohn.«
»Sie haben vollkommen Recht, ich spreche von Mr Rafiels Sohn. Was wissen Sie über ihn?«
»Gar nichts«, sagte Miss Marple. »Ich habe nur gehört – und zwar erst gestern –, dass Mr Rafiel einen missratenen oder, milde gesagt, unerfreulichen Sohn hatte. Einen Sohn mit krimineller Vergangenheit. Ist er Mr Rafiels einziger Sohn?«
»Ja. Aber er hatte noch zwei Töchter. Die eine starb mit vierzehn, die andere ist verheiratet, hat aber keine Kinder.«
»Wie traurig für ihn.«
»Vielleicht«, sagte Professor Wanstead. »Seine Frau starb jung, und ich halte es für möglich, dass ihr Tod ihn sehr geschmerzt hat, obwohl er es nie zeigte. Ich weiß nicht, was er für ein Verhältnis zu seinen Kindern hatte, auf jeden Fall hat er für sie gesorgt. Er tat alles für sie, auch für den Sohn, aber was er für sie empfand, weiß ich nicht. Darin war er sehr verschlossen. Ich glaube, sein ganzes Leben galt dem Geldverdienen. Aber wie bei allen großen Finanzleuten war es das Geldmachen, das ihn interessierte, nicht das Geld selbst. Er hatte Spaß an seinem Beruf, er liebte ihn und hatte wenig andere Interessen.
Er tat für seinen Sohn, was in seiner Macht lag. Er holte ihn aus der Klemme, wenn er in der Schule etwas angestellt hatte, er griff in Gerichtsverfahren ein, wenn es möglich war. Bis es dann zu einer sehr üblen Sache kam. Der Junge wurde wegen Körperverletzung vor Gericht gestellt. Es hieß, er habe das Mädchen auch vergewaltigt, er kam für einige Zeit ins Gefängnis. Dank seiner Jugend bekam er damals mildernde Umstände. Doch später wurde dann noch einmal Anklage gegen ihn erhoben, in einer anderen, sehr ernsten Sache.«
»Er tötete ein Mädchen«, sagte Miss Marple. »Das stimmt doch? So hat man es mir erzählt.«
»Er lockte ein Mädchen von zu Hause fort. Erst später wurde ihre Leiche gefunden. Sie war erwürgt worden. Und hinterher hatte man ihr den Kopf eingeschlagen und ihr Gesicht entstellt. Wahrscheinlich, um eine Identifizierung unmöglich zu machen.«
»Eine abscheuliche Tat«, sagte Miss Marple.
Professor Wanstead schaute sie nachdenklich an.
»Meinen Sie das wirklich?«
»Ja«, sagte Miss Marple. »Ich habe kein Verständnis für solche Dinge, habe es nie gehabt. Wenn Sie von mir erwarten, dass ich Mitgefühl habe oder Bedauern, dass ich die traurige Kindheit oder das schlechte Milieu berücksichtigen soll, wenn Sie von mir erwarten, dass ich Tränen vergieße über Ihren jungen Mörder, dann muss ich Sie enttäuschen. Ich mag keine bösen Menschen, die böse Dinge tun.«
»Das höre ich gern«, sagte Professor Wanstead. »Sie ahnen nicht, was ich in meinem Beruf erlebe, wie viel Heulen und Jammern von Leuten, die alles und jedes in ihrer Vergangenheit für ihre Taten verantwortlich machen. Wenn die Leute wüssten, was es wirklich für schlimme Lebensbedingungen gibt, was andere Menschen an Lieblosigkeiten und Schwierigkeiten im Leben mitmachen und trotzdem durchkommen, ohne Schaden zu nehmen, würden sie wohl kaum diese Ansichten teilen. Die Übeltäter sind zu bedauern, ja, sie sind zu bedauern wegen der Erbanlagen, mit denen sie geboren wurden und gegen die sie nichts machen können. Ebenso bedaure ich auch Epileptiker. Sie wissen, was Gene sind – «
»Ja, ungefähr«, sagte Miss Marple. »Heute gehört das ja zur Allgemeinbildung. Natürlich weiß ich nichts Genaues über die chemische Zusammensetzung, über die Struktur und so weiter.«
»Der Direktor sagte mir dann, weshalb er meinen Rat brauche. Er sei im Lauf der Zeit zu der Ansicht gekommen, dass dieser Häftling kein Mörder sei. Er glaube nicht, dass er der Typ eines Mörders sei, er sei ganz anders als alle Mörder, die er bisher kennen gelernt habe. Er meinte, dass dieser junge Mann der Typ des Kriminellen sei, der nie anständig werden würde, ganz egal, wie man ihn behandle. Er würde sich nie bessern, und man könne eigentlich nichts für ihn tun, doch er habe das Gefühl, dass er zu Unrecht verurteilt worden sei. Er glaubte nicht, dass der Häftling ein Mädchen ermordet, es zuerst erwürgt und dann entstellt hatte. Er hatte sich die Unterlagen zu dem Fall noch
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