Das Schicksal in Person
gekannt, eigentlich nur flüchtig. Wir waren in Westindien einige Wochen zusammen. Aber das werden Sie wahrscheinlich schon wissen.«
»Ja, ich weiß, dass Mr Rafiel Sie dort kennen lernte. Dort haben Sie dann auch – nun sagen wir mal – zusammengearbeitet?«
Miss Marple schaute ihn fragend an. »Ach, das hat er gesagt?« Sie schüttelte den Kopf.
»Er meinte, dass Sie einen bemerkenswerten Spürsinn für kriminelle Dinge hätten.«
Miss Marple schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und das kommt Ihnen sehr unwahrscheinlich vor, nicht? Es überrascht Sie?«
»Ich habe es mir abgewöhnt, über irgendwelche Dinge überrascht zu sein«, sagte der Professor. »Mr Rafiel war ein sehr kluger, aufrechter Mann, ein Menschenkenner. Und er war der Meinung, dass auch Sie die Gabe haben, Menschen richtig zu beurteilen.«
»Eine gute Menschenkennerin? Nein, das möchte ich nicht sagen«, meinte Miss Marple. »Aber es ist so, dass mich gewisse Leute an gewisse andere Leute erinnern, die ich kannte, und deswegen setze ich voraus, dass sie auch ähnlich handeln. Wenn Sie meinen, dass ich genau weiß, was ich hier soll, irren Sie sich.«
»Zufällig sitzen wir an einem Platz«, sagte der Professor, »der sehr geeignet ist, um verschiedene Dinge zu erörtern. Niemand scheint uns zu beobachten, man kann unser Gespräch nicht mithören, es ist kein Fenster oder Balkon über oder neben uns. Wir können also ungestört sprechen.«
»Das wäre mir sehr lieb«, sagte Miss Marple. »Ich muss noch einmal betonen, dass mir völlig unklar ist, was man von mir will. Ich weiß wirklich nicht, weshalb Mr Rafiel es so haben wollte.«
»Ich kann es mir denken. Er wollte, dass Sie gewissen Tatsachen und Ereignissen unvoreingenommen gegenübertreten, von niemand beeinflusst.«
»Sie wollen mir also auch nichts verraten?«, fragte Miss Marple irritiert. »Wirklich, es gibt Grenzen!«
Professor Wanstead lächelte. »Da muss ich Ihnen Recht geben. Mit diesen Grenzen wollen wir aufräumen. Ich werde Ihnen ein paar Dinge erzählen, durch die verschiedene Tatsachen für Sie verständlicher werden. Sie können mir dann vielleicht auch bestimmte Anhaltspunkte geben.«
»Das bezweifle ich«, sagte Miss Marple. »Vielleicht ein paar Hinweise. Aber mehr wohl kaum.«
»Also fangen wir an«, sagte der Professor.
»Erzählen Sie schon«, sagte Miss Marple ungeduldig.
11
» I ch will mich kurz fassen und Ihnen nur sagen, wie alles anfing. Ich bin hin und wieder als Ratgeber für das Innenministerium tätig und stehe auch in Verbindung mit gewissen Institutionen. Es gibt da staatliche Einrichtungen, die eine bestimmte Art Verbrecher mit Essen und Wohnung versorgen, wenn sie verurteilt worden sind. Diese Kriminellen bleiben dort für eine gewisse Zeitdauer, die auch mit ihrem Alter zusammenhängt. Wenn sie ein bestimmtes Alter noch nicht erreicht haben, werden sie in besonderen Gefängnissen untergebracht. Sie verstehen, was ich meine?«
»Ja, ganz genau.«
»Meistens werde ich ziemlich bald, nachdem das Verbrechen begangen worden ist, zu Rate gezogen. Ich muss dann mein Urteil über die verschiedensten Dinge abgeben, Ratschläge für die Behandlung der Leute geben, Prognosen für ihre weitere Entwicklung stellen und so weiter. Manchmal werde ich aber von dem Direktor einer dieser Einrichtungen auch aus anderen Gründen zugezogen. In diesem bestimmten Fall bekam ich durch das Innenministerium die Aufforderung, mich mit dem Direktor einer dieser Institutionen in Verbindung zu setzen. Zufällig war es ein Freund von mir, ein Mann, den ich schon lange kenne, mit dem ich aber nicht oft zusammenkam. Ich fuhr also zu ihm, und er sagte mir, was er auf dem Herzen hatte. Es handelte sich um einen bestimmten Häftling. Ein Mann, der ihn sehr beschäftigte und der fast noch ein Junge war, als er eingeliefert wurde. Es ist schon ein paar Jahre her, dass dieser junge Mann dorthinkam. Damals war mein Freund noch nicht Direktor dieser Institution. Als er dann längere Zeit hindurch Gelegenheit hatte, ihn zu beobachten, fiel ihm einiges auf, was ihn nachdenklich machte. Es ist ein Mann, der sehr viel Erfahrung mit kriminellen Patienten und mit Gefangenen hat. Dieser Häftling war, um es ganz deutlich zu sagen, schon von früher Jugend an das, was man ›missraten‹ nennt. Sie können es ausdrücken, wie Sie wollen: Missetäter, Rowdy, Taugenichts – es gibt eine Menge Bezeichnungen für diese Sorte Menschen. Auf jeden Fall war er kriminell
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