Das Schicksal ist ein mieser Verräter (German Edition)
vorbeifahren sehen. Es wird bestimmt schön. Sehr romantisch.«
»Mom.«
»Ich meine ja nur«, sagte sie. »Du solltest dich anziehen. Das Kleid vielleicht?«
Man könnte sich wundern über die verdrehte Welt: Eine Mutter schickt ihre sechzehnjährige Tochter allein mit einem siebzehnjährigen Kerl in eine fremde Stadt hinaus, die berühmt für ihre lockere Moral ist. Aber auch das war eine Nebenwirkung des Sterbens: Ich durfte zwar nicht rennen oder tanzen oder Sachen mit hohem Stickstoffgehalt essen, aber in der Stadt der Freiheit gehörte ich zu den freiesten von allen.
Und so zog ich das Kleid an – ein knielanges, blau gemustertes, fließendes Teil von Forever 21 –, und dazu Strumpfhosen und Ballerinas, weil ich es schön fand, dass ich viel kleiner war als er. Ich verschwand in unserem unglaublich winzigen Bad und striegelte meine Bettfrisur so lange, bis ich einigermaßen nach Natalie Portman des frühen 21. Jahrhunderts aussah. Punkt 18.00 Uhr (mittags zu Hause) klopfte es.
»Hallo?«, fragte ich durch die Tür. Im Hotel Filosoof gab es keinen Türspion.
»Okay«, antwortete Augustus. Ich hörte, dass er eine Zigarette im Mund hatte. Dann sah ich an mir herunter. Mein Dekolleté zeigte mehr Schlüsselbein und Ausschnitt, als Augustus bis jetzt zu sehen bekommen hatte. Es war nicht direkt aufreizend oder so, aber für mich war es ziemlich viel Haut. (Meine Mutter hatte ein Motto, dem ich mich anschloss: »Die Lancasters zeigen keinen Bauch.«)
Ich öffnete die Tür. Augustus trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug mit schmalem Rever, und darunter ein hellblaues Hemd und eine schmale schwarze Krawatte. Im nichtlächelnden Winkel seines Mundes hing eine Zigarette. »Hazel Grace«, sagte er, »du siehst umwerfend aus.«
»Ich …«, begann ich. Ich hatte gehofft, der Rest des Satzes würde mit der Luft, die durch meine Stimmbänder rauschte, herauskommen, aber nichts passierte. Dann endlich brachte ich raus: »Ich glaube, ich bin nicht schick genug.«
»Ach, du meinst das alte Ding hier?« Er grinste zu mir herunter.
»Augustus«, sagte meine Mutter, die hinter mir stand, »du siehst blendend aus.«
»Danke, Ma’am«, erwiderte er. Er bot mir seinen Arm an. Ich nahm ihn und drehte mich zu meiner Mutter um.
»Wir sehen uns um elf«, sagte sie.
Als wir an einer breiten verkehrsreichen Straße auf die Tram Nr. 1 warteten, sagte ich zu Augustus: »Der Anzug, den du auf Beerdigungen trägst, nehme ich an?«
»Ganz und gar nicht«, gab er zurück. »Mein anderer Anzug ist nicht annähernd so schön.«
Die blauweiße Tram kam, und Augustus hielt dem Schaffner unsere Fahrkarten hin, der uns erklärte, dass wir sie vor einen kreisrunden Sensor halten mussten. Als wir durch den vollen Wagen gingen, stand ein alter Mann auf, um uns zusammensitzen zu lassen, und ich versuchte ihm zu sagen, dass er ruhig sitzen bleiben könne, doch er zeigte hartnäckig auf den Platz. Wir fuhren drei Stationen, ich über Gus gelehnt, um mir mit ihm alles anzusehen.
Augustus zeigte hinauf zu den Bäumen. »Siehst du das?«
Ich sah es. Die Kanäle waren von Ulmen gesäumt, die in voller Blüte standen, und ihre Samen schwebten durch die Luft. Doch sie sahen gar nicht aus wie Samen. Sie sahen aus wie winzige Rosenblätter, denen die Farbe entzogen worden war. Wie Vogelschwärme sammelten sich die blassen Blättchen im Wind – Abertausende davon, wie ein Schneesturm im Frühling.
Der alte Mann, der uns seinen Platz gegeben hatte, sah unseren Blick und erklärte auf Englisch: »Das ist der Amsterdamer Frühlingsschnee. Die iepen werfen Konfetti, um den Frühling zu begrüßen.«
Wir stiegen um, und nach vier weiteren Stationen erreichten wir eine Straße, die von einem wunderschönen Kanal geteilt wurde. Im Wasser schimmerten die Spiegelungen der uralten Brücke und der malerischen Häuser am Ufer.
Von der Tramstation waren es nur wenige Schritte zum Oranjee. Das Restaurant befand sich auf der einen Straßenseite; die Terrasse mit den Tischen auf der anderen, auf einem Betonvorsprung direkt über dem Kanal. Die Wirtin strahlte, als sie uns kommen sah. »Mr. und Mrs. Waters?«
»So ungefähr«, antwortete ich.
»Ihr Tisch.« Sie zeigte über die Straße auf einen kleinen Tisch, nur wenige Zentimeter vom Kanal entfernt. »Der Champagner ist ein Geschenk des Hauses.«
Gus und ich sahen einander an und lächelten. Als wir die Straße überquert hatten, zog er den Stuhl für mich zurück und half mir, ihn wieder an
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