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Das Schicksal ist ein mieser Verräter (German Edition)

Das Schicksal ist ein mieser Verräter (German Edition)

Titel: Das Schicksal ist ein mieser Verräter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Green
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habt, euch ein bisschen zu unterhalten.« Sie warf Gus einen Blick zu. »Vielleicht können wir später eine Kanalrundfahrt machen.«
    »Na gut«, sagte ich. Mom legte einen Fünf-Euro-Schein unter ihre Untertasse, gab mir einen Kuss auf den Kopf und flüsterte: »Ich habe dich so, so, so lieb«, mit zwei Sos mehr als sonst.
    Gus zeigte auf die Schatten der Äste, die sich auf dem Beton überschnitten und wieder auseinanderliefen. »Ist das nicht schön?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Eine gute Metapher«, murmelte er.
    »Ach ja?«
    »Das Negativbild davon, wie Dinge zusammen- und auseinanderdriften.« Vor uns kamen Hunderte von Leuten vorbei, joggend, auf Fahrrädern, mit Inlineskates. Amsterdam war eine Stadt der Bewegung und Aktivität, eine Stadt, in der aufs Auto lieber verzichtet wurde, und ich fühlte mich unweigerlich ausgeschlossen. Doch, Mann, es war wunderschön hier, der kleine Fluss, der sich um einen riesigen Baum schlängelte, ein Reiher, der ganz still am Ufer stand, auf der Suche nach Frühstück zwischen den Millionen Ulmenblütenblättern, die das Wasser bedeckten.
    Aber Augustus sah nicht hin. Er war zu vertieft in die tanzenden Schatten. Irgendwann sagte er: »Ich könnte den Schatten den ganzen Tag zusehen, aber wir sollten zurück ins Hotel.«
    »Haben wir Zeit?«, fragte ich.
    Er lächelte traurig. »Schön wär’s«, sagte er.
    »Was ist denn?«, fragte ich.
    Er nickte nur in Richtung Hotel.
     
    Wir gingen schweigend zurück, Augustus einen halben Schritt vor mir. Ich hatte Angst zu fragen, ob es einen Grund gab, Angst zu haben.
    Es gibt da so ein Schema, das sich die maslowsche Bedürfnispyramide nennt. Dieser Kerl namens Abraham Maslow wurde mit der Theorie berühmt, dass gewisse Bedürfnisse gestillt sein müssen, bevor man andere Bedürfnisse haben kann. Die Pyramide sieht so aus:

    Maslows Bedürfnispyramide (1943)
     
    Erst nachdem das Bedürfnis nach Essen und Trinken gestillt ist, landet man auf der nächsten Stufe und kann die nächsten Bedürfnisse haben, und dann wieder auf der nächsten und der nächsten. Aber das Wichtige ist, behauptet Maslow, bevor nicht die körperlichen Grundbedürfnisse gestillt sind, sei man überhaupt nicht in der Lage dazu, sich über Sicherheit oder soziale Bedürfnisse den Kopf zu zerbrechen, geschweige denn über »Selbstverwirklichung«, womit gemeint ist, Kunst zu schaffen oder sich Gedanken über Moral oder Quantenphysik und so weiter zu machen.
    Nach Maslow steckte ich auf der zweiten Stufe der Pyramide fest, und da mein Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit nicht gestillt werden konnte, hätte ich überhaupt nicht in der Lage sein dürfen, nach Liebe und Respekt und Kunst oder so was zu streben, was natürlich vollkommener Blödsinn ist: Das Bedürfnis, Kunst zu schaffen oder über Philosophie nachzudenken, verschwindet nicht, wenn einem andere Bedürfnisse verweigert werden. Es wird durch das ungestillte Bedürfnis nur verklärt.
    Aus Maslows Pyramide ließ sich scheinbar ableiten, dass ich weniger menschlich als andere Leute war, und scheinbar waren die meisten Leute damit einverstanden. Doch Augustus nicht. Ich hatte immer gedacht, er konnte mich lieben, weil er auch krank gewesen war. Erst jetzt kam mir der Gedanke, dass er vielleicht immer noch krank war.
     
    Wir gingen in unser Zimmer, das Kierkegaard. Ich setzte mich aufs Bett und erwartete, dass er zu mir kam, aber er nahm den staubigen Paisleysessel. Dieser Sessel. Wie alt war er? Fünfzig Jahre?
    Der Kloß in meinem Hals wurde größer, während ich zusah, wie Augustus eine Zigarette aus dem Päckchen nahm und sich in den Mund steckte. Er lehnte sich zurück und seufzte. »Kurz bevor du ins Krankenhaus musstest, fing meine Hüfte an wehzutun.«
    »Nein«, sagte ich.
    Er nickte. »Also ging ich zum PET-Scan.« Er schwieg. Dann zog er sich die Zigarette aus dem Mund und biss die Zähne zusammen.
    Einen großen Teil meines Lebens habe ich damit verbracht zu versuchen, vor den Menschen, die mich liebten, nicht zu weinen. Daher wusste ich genau, was Augustus da tat. Du beißt die Zähne zusammen. Du siehst zur Decke. Du sagst dir, es tut ihnen weh, wenn sie dich weinen sehen, und dann bist du nur noch ein Kummer in ihrem Leben, und weil du kein Kummer sein willst, darfst du nicht weinen, und das alles redest du dir ein, während du zur Decke siehst, und dann schluckst du, obwohl sich deine Kehle nicht schließen will, und siehst den Menschen, der dich liebt, an und lächelst.
    Er ließ

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