Das Schicksal ist ein mieser Verräter (German Edition)
Familie, der den Krieg überlebte«, sagte Lidewij über Annes Vater Otto. Sie sprach leise, wie in einer Kirche.
»Es war kein Krieg, den er überlebt hat«, sagte Augustus, »es war Völkermord.«
»Ja«, sagte Lidewij. »Ich weiß nicht, wie man weiterlebt ohne seine Familie. Ich weiß es nicht.« Als ich über die sieben las, die gestorben waren, musste ich daran denken, dass Otto Frank auf einmal kein Vater mehr war, sondern plötzlich statt einer Frau und zwei Töchtern nur noch ein Tagebuch hatte. Am Ende des Flurs lag ein riesiges Buch aus, größer als jedes Wörterbuch, in dem die Namen der 103 000 ermordeten Juden aus den Niederlanden standen. (Auf einem Schild an der Wand stand, nur 5000 der deportierten niederländischen Juden überlebten. 5000 Otto Franks.) Das Buch war auf der Seite mit Anne Franks Namen aufgeschlagen, und was mich besonders berührte, war, dass direkt unter ihrem Namen vier Aron Franks standen. Vier . Vier Aron Franks ohne Museen, ohne Hinterlassenschaft, ohne eine Öffentlichkeit, die um sie trauerte. Im Stillen beschloss ich, der vier Aron Franks zu gedenken und für sie zu beten, solange ich noch da war. (Andere brauchen vielleicht einen richtigen allmächtigen Gott zum Beten, aber ich konnte es auch ohne.)
Als wir das Ende des Raums erreichten, nahm Gus meine Hand und fragte: »Alles okay?« Ich nickte.
Er zeigte auf das Foto von Anne Frank. »Das Schlimmste ist, dass sie fast überlebt hat, oder? Sie ist nur wenige Wochen vor der Befreiung gestorben.«
Lidewij sah sich ein Video an, und ich nahm Augustus’ Hand, als wir den nächsten Raum betraten. Es war ein Spitzboden, in dem die Briefe ausgestellt wurden, die Otto Frank auf der monatelangen Suche nach seinen Töchtern an verschiedene Leute geschrieben hatte. An einer Wand in der Mitte des Raums wurde ein Video von Otto Frank gezeigt. Er sprach Englisch.
»Sind noch irgendwelche Nazis übrig, die ich jagen und ihrer gerechten Strafe zuführen kann?«, fragte Augustus, als wir uns über die Vitrinen beugten und Ottos Briefe lasen und die herzzerbrechenden Antworten dazu, nein, niemand hatte seine Kinder nach der Befreiung gesehen.
»Ich glaube, es sind alle tot. Aber die Nazis haben schließlich kein Monopol auf das Böse.«
»Stimmt«, sagte er. »Das sollten wir tun, Hazel: Wir sollten uns zusammentun und als die lädierten Rächer durch die Welt reisen, Unrecht richten, die Schwachen verteidigen und die Gefährdeten schützen.«
Obwohl es sein Traum war und nicht meiner, spielte ich mit. Immerhin hatte er auch bei meinem mitgespielt. »Unsere Geheimwaffe ist die Todesverachtung«, sagte ich.
»Und die Legenden unserer Heldentaten werden bis ans Ende der Menschheit überliefert«, sagte er.
»Und selbst danach werden die Roboter, wenn sie an menschliche Absurditäten wie Opferbereitschaft und Mitleid denken, sich an uns erinnern.«
»Scheppernd werden sie über unseren törichten Todesmut lachen«, sagte er. »Aber tief in ihrem eisernen Roboterherzen sehnen sie sich danach, gelebt zu haben und gestorben zu sein wie wir: wie echte Helden.«
»Augustus Waters«, sagte ich und sah zu ihm auf. Ich dachte, im Anne-Frank-Haus konnte man sich nicht küssen, aber dann dachte ich, Anne Frank hatte im Anne-Frank-Haus schließlich auch jemanden geküsst, und wahrscheinlich könnte sie sich nichts Besseres wünschen, als dass das Haus, in dem sie gelebt hatte, ein Ort würde, an dem sich die jungen und unheilbar Lädierten rettungslos ineinander verliebten.
»Ich muss zugeben«, sagte Otto Frank auf Englisch mit deutschem Akzent in dem Video, »ich war sehr überrascht von den tiefen Gedanken, die Anne sich machte.«
Und dann küssten wir uns. Ich ließ den Sauerstoffwagen los und legte die Hand in seinen Nacken, und er zog mich an der Hüfte auf die Zehenspitzen. Seine geöffneten Lippen berührten meine, und ich begann mich atemlos zu fühlen, auf eine neue und faszinierende Art. Der Raum um uns verschwand, und einen merkwürdigen Moment lang mochte ich meinen Körper richtig gerne; dieses vom Krebs zerfressene Ding, das ich seit Jahren mit mir herumschleppte – plötzlich schien es all die Kämpfe wert zu sein, die Schläuche und Katheter und den unaufhörlichen körperlichen Verrat der Metastasen.
»Als Tochter habe ich eine ganz andere Anne gekannt. Ihre inneren Gefühle hat sie eigentlich nie gezeigt«, fuhr Otto Frank fort.
Der Kuss dauerte ewig, während Otto Frank hinter mir sprach. »Ich bin also zu dem
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