Das Schicksal ist ein mieser Verräter (German Edition)
liebe dich, Gegenwart«, flüsterte ich, und dann legte ich die Hand auf die Mitte seiner Brust und sagte: »Es ist okay, Gus. Es ist okay. Wirklich. Es ist okay, hörst du mich?« Ich hatte – und habe – absolut kein Vertrauen, dass er mich hören konnte. Ich beugte mich vor und küsste ihn auf die Wange. »Okay«, sagte ich. »Okay.«
Plötzlich wurde mir bewusst, dass uns alle beobachteten und dass wir beim letzten Mal, als uns so viele Leute beim Küssen zusahen, im Anne-Frank-Haus gewesen waren. Dabei gab es diesmal, korrekt gesagt, kein uns mehr, das beobachtet werden konnte. Nur noch mich.
Ich klappte die Handtasche auf und nahm ein Päckchen Camel Lights heraus. Mit einer schnellen Bewegung, die hoffentlich niemand sah, legte ich die Zigaretten in den Sarg, zwischen ihn und das gepolsterte glänzende Innenfutter. »Die kannst du anzünden«, flüsterte ich. »Es macht mir nichts aus.«
Während ich bei ihm war, hatten sich meine Eltern mit meiner Sauerstoffflasche in die zweite Reihe gesetzt, so dass der Rückweg kürzer war. Dad reichte mir ein Taschentuch, als ich mich setzte. Ich putzte mir die Nase, flocht mir den Schlauch hinter die Ohren und steckte die Stöpsel wieder in die Nase.
Ich hatte angenommen, der Gottesdienst würde in der Hauptkirche stattfinden, doch wir blieben in der kleinen Kapelle – in Jesus’ buchstäblicher Hand, schätze ich, dem Teil des Kreuzes, an den sie ihn genagelt hatten. Ein Pfarrer kam den Gang herauf und stellte sich hinter den Sarg, als wäre der Sarg die Kanzel oder so was, und er sprach ein bisschen darüber, dass Augustus einen tapferen Kampf ausgetragen hatte und dass sein Mut im Angesicht der Krankheit uns allen zum Vorbild gereichte, und ich wurde schon langsam sauer auf den Pfarrer, als er noch eins draufsetzte: »Im Himmel wird Augustus wieder heil und ganz«, als wäre er aufgrund seiner Beinlosigkeit weniger ganz als andere Menschen gewesen, und da konnte ich den Seufzer der Entrüstung nicht unterdrücken. Mein Vater griff nach meinem Bein und warf mir einen mahnenden Blick zu, aber aus der Reihe hinter mir murmelte jemand fast unhörbar ins Ohr: »Was für ein Bockmist, was, Kleine?«
Ich drehte mich um.
Peter Van Houten trug einen weißen Leinenanzug, der ihm an den runden Leib geschneidert war, ein taubenblaues Hemd und eine grüne Krawatte. Er sah aus, als hätte er sich nicht für eine Beerdigung, sondern für die koloniale Besetzung Panamas herausgeputzt. Der Pfarrer sagte: »Lasst uns beten«, doch während alle die Köpfe senkten, starrte ich nur mit offenem Mund Peter Van Houten an. Nach einem Moment flüsterte er mir zu: »Wir müssen so tun, als würden wir beten«, und senkte den Kopf.
Ich versuchte, ihn zu vergessen und für Augustus zu beten. Ganz bewusst hörte ich dem Pfarrer zu und sah mich nicht um.
Dann holte der Pfarrer Isaac nach vorne, der viel ernster war als bei der Vorbeerdigung. »Augustus Waters war der Bürgermeister der geheimen Stadt Krebsania, und er ist nicht zu ersetzen«, begann Isaac. »Andere Leute können euch witzige Geschichten von Gus erzählen, weil er ein witziger Typ war, aber ich will euch eine ernste erzählen: Am Tag nachdem mir die Augen herausgeschnitten wurden, kam Gus ins Krankenhaus. Ich war blind, und mein Herz war gebrochen, und ich war fertig mit der Welt, und da stürzte Gus in mein Zimmer und rief: ›Ich habe tolle Neuigkeiten!‹, und ich sagte: ›Ich habe grade keine Lust auf tolle Neuigkeiten‹, und Gus sagte: ›Aber das sind so tolle Neuigkeiten, die willst du hören‹, und ich sagte: ›Schön, was ist los?‹, und er sagt: ›Du hast ein gutes und langes Leben vor dir, voller großer und schrecklicher Momente, die du dir im Moment noch nicht mal vorstellen kannst!‹«
Isaac konnte nicht weiterlesen, oder vielleicht war das schon alles, was er geschrieben hatte.
Nachdem ein Freund aus der Schule ein paar Geschichten von Gus’ bemerkenswertem Basketballtalent und seinen vielen Qualitäten als Mannschaftskamerad erzählt hatte, sagte der Pfarrer: »Jetzt hören wir ein paar Worte von Augustus’ besonderer Gefährtin Hazel.« Besondere Gefährtin? Ich hörte vereinzeltes Gekicher im Publikum, und deshalb beschloss ich, dass ich ruhig anfangen konnte, indem ich dem Pfarrer erklärte: »Ich war seine Freundin.« Dafür bekam ich einen Lacher. Dann begann ich die Grabrede vorzulesen, die ich geschrieben hatte.
»Bei Gus zu Hause hängt ein schöner Spruch, den er und ich
Weitere Kostenlose Bücher