Das Schicksal ist ein mieser Verräter (German Edition)
darüber sagen, ohne in einem See von Tränen zu versinken. Gus wusste es. Gus weiß es. Doch ich werde hier nicht von unserer Liebesgeschichte erzählen, weil sie – wie alle wahren Liebesgeschichten – mit uns stirbt. Ich hatte gehofft, dass er meine Grabrede halten würde, denn es gibt niemanden, den ich lieber gehabt …« Ich begann zu weinen. »Puh, wie soll ich nicht weinen. Wie soll ich – okay. Okay.«
Ich holte ein paarmal Luft und konzentrierte mich wieder auf das Blatt vor mir. »Ich kann nicht von unserer Liebe sprechen, also spreche ich von Mathematik. Ich bin kein Mathematiker, aber ich weiß so viel: Es gibt unendlich viele Zahlen zwischen null und eins: 0,1 und 0,12 und 0,112 und eine unendliche Zahl anderer. Zwischen 0 und 2 gibt es natürlich noch viel mehr unendlich viele Zahlen und zwischen 0 und einer Million erst recht. Manche Unendlichkeiten sind größer als andere Unendlichkeiten. Das hat uns ein Schriftsteller gelehrt, den wir einmal kannten. Es gibt Tage, viele Tage, an denen ich bedaure, dass die Unendlichkeit meiner Zahlen so klein ist. Ich hätte gern mehr, als mir wahrscheinlich zustehen, und lieber Gott, ich hätte gern mehr Zahlen für Augustus Waters gehabt, als er bekommen hat. Aber, Gus, meine große Liebe, ich kann dir nicht sagen, wie unendlich dankbar ich für unsere kleine Unendlichkeit bin. Ich würde sie um nichts in der Welt hergeben. Du hast mir mit deinen gezählten Tagen eine Ewigkeit geschenkt, und dafür bin ich dankbar.«
KAPITEL EINUNDZWANZIG
Augustus Waters starb acht Tage nach seiner Vorbeerdigung im Memorial Hospital auf der Intensivstation, als der Krebs, der Teil von ihm war, schließlich sein Herz anhielt, das auch Teil von ihm war.
Er war mit seinen Eltern und seinen Schwestern zusammen. Seine Mutter rief mich um 3:30 Uhr morgens an. Ich hatte natürlich gewusst, dass er ging. Ich hatte mit seinem Dad gesprochen, bevor ich mich ins Bett legte, und er hatte gesagt: »Vielleicht heute Nacht«, und doch, als ich nach dem Telefon auf dem Nachttisch griff und auf dem Display »Gus’ Mutter« sah, brach alles in mir zusammen. Sie weinte am anderen Ende der Leitung nur, und sie sagte, dass es ihr leidtue, und ich sagte auch, dass es mir leidtue, und sie sagte, dass er ein paar Stunden bewusstlos war, bevor er starb, doch bevor es zu Ende war, hatte er verzweifelt nach Luft gerungen, und dabei gleichzeitig versucht, sie zu trösten, und hatte zwischen den letzten schrecklichen Atemzügen immer wieder okay gesagt.
Meine Eltern kamen rein und sahen mich fragend an, und ich nickte nur, und sie fielen einander in die Arme, und wahrscheinlich spürten sie das gleichklingende Grauen, das früher oder später direkt zu ihnen käme.
Ich rief Isaac an, der das Leben und das Universum und Gott selbst verfluchte, und er rief, wo sind die gottverdammten Trophäen, wenn man sie braucht, und dann merkte ich, dass sonst niemand da war, den ich anrufen musste, und das machte mich wahnsinnig traurig. Der Einzige, mit dem ich wirklich über Augustus Waters’ Tod reden wollte, war Augustus Waters.
Meine Eltern blieben ewig bei mir im Zimmer, bis es Morgen war, und irgendwann fragte Dad: »Willst du allein sein?«, und ich nickte, und Mom sagte: »Wir sind gleich vor der Tür«, und ich dachte: Daran zweifele ich nicht.
Es war unerträglich. Alles. Jede Sekunde war noch schlimmer als die vorhergehende. Ich wollte ihn die ganze Zeit anrufen und fragte mich, was dann passieren würde, ob jemand rangehen würde. In den letzten Wochen hatten wir die Zeit, die wir zusammen waren, nur noch in Erinnerungen verbracht, aber das war besser als nichts: Jetzt war mir sogar die Freude des Erinnerns genommen, denn es gab niemanden mehr, mit dem ich mich erinnern konnte. Der Verlust meines Miterinnerers fühlte sich an, als würde ich das Gedächtnis verlieren, als wären die Dinge, die wir getan hatten, weniger wirklich und wichtig, als sie noch vor Stunden gewesen waren.
Wenn man in die Notaufnahme eingeliefert wird, wird man zuerst gefragt, auf welcher Skala von eins bis zehn man den Schmerz einordnen würde, und daraufhin entscheiden sie, welche Medikamente sie dir geben und wie schnell. Man hatte mir diese Frage über die Jahre Hunderte von Malen gestellt, und ich erinnere mich an ein Mal vor langer Zeit, als ich keine Luft bekam und das Gefühl hatte, meine Brust brenne und die Flammen leckten von innen an meinen Rippen und versuchten sich durch meinen Körper zu
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