Das Schiff - Roman
Brücke in eine Glaskugel von ungefähr vierzig Metern Durchmesser hineinführt. Diese Glaskugel oder Kuppel oberhalb der Plattform ist ein Ort der Ruhe, der Aussicht auf die Sterne und den von einer Rinne durchzogenen Schneeball bietet. Ein geeigneter Ort, um nach unten zu schauen und zu staunen.
Erneut zirkelt der Schneeball um uns herum, diesmal allerdings langsamer. Inzwischen sind wir schon mit dem Gefühl vertraut, das wir gleich spüren werden: Das Schiff vermindert die Rotation, und wir werden so weit nach vorne gestoßen, dass wir uns an den Leitersprossen, den Geländern oder aneinander festklammern müssen. Als sich der Vorwärtsschub legt, verlieren wir zugleich die Bodenhaftung.
Wir befinden uns wieder in der Schwerelosigkeit.
Als ein Wind aufkommt, fällt mir plötzlich ein, dass ich, wenn auch widerwillig, die Shorts angezogen habe, ehe wir die Brücke betraten, da ich nicht nackt, vor aller Augen entblößt, sterben wollte.
Die Kleine hat die Leiter losgelassen und treibt jetzt vor mir. Ein letzter Windstoß treibt sie auf die Glaskuppel zu. Auch ich löse mich schließlich von der Leiter, um ihr zu folgen. Die drei anderen Menschen, Picker, Pushingar und Satmonk, halten sich dicht hinter uns. Sie sind zwar ein bisschen anders als das Mädchen und ich, denke ich, aber auch sie besitzen die Fähigkeiten zu lachen, Freundlichkeit und Solidarität zu zeigen – die besten menschlichen Eigenschaften überhaupt.
Ruh dich aus und stirb
D as Erste, was ich in der Glaskuppel sehe, ist ein schwebender Leichnam, der sich, voll bekleidet, seitlich um die eigene Achse dreht. Ich halte die Leiche für weiblich, für eine erwachsene Frau, bin mir aber nicht ganz sicher, denn der Körper ist schon stark verwest, vielleicht auch zerfressen.
»Die Reinigungskräfte sind hier nicht sonderlich aktiv gewesen«, bemerkt die Kleine trocken und zieht eine missbilligende Schnute. Gleich darauf löst sie sich vom Ende der Brücke und lässt sich auf den Leichnam zutreiben. Während die anderen auf die gegenüberliegende Seite der Kuppel zuhalten, turnt sie um die Tote herum und zeigt uns, dass sie eine Art Rucksack trägt. Sofort untersucht sie ihn, indem sie ihn von innen nach außen kehrt, aber er ist leer. »Kein Buch«, erklärt sie schnaufend und stößt sich so heftig von dem Leichnam ab, dass beide Körper sich in entgegengesetzter Richtung bewegen, genau wie Newton es beschrieben hat.
Newton.
Der erste Name, den ich wiedergefunden habe. Ein Name, der mir offenbar wichtiger ist als mein eigener.
Jetzt taucht die schmutzig-weiße Masse – langsam, sehr langsam – erneut in unserem Blickfeld auf und bleibt »unter« uns in einer 2-Uhr-Position stehen. Sie kreist im Uhrzeigersinn. Uhrzeiger. Rotation. Grade. Radianten. Nach und nach ergibt sich für mich daraus in visueller und anderer Hinsicht ein bestimmtes Bild.
Verblüfft und zugleich besorgt schüttele ich den Kopf, rücke so weit vor, bis meine Hand das Ende des Geländers umklammert, wende den Blick von der atemberaubenden Szenerie unter mir ab und schaue nach »oben«, das heißt nach binnenbord. Im dunklen, nur vage auszumachenden Teil der Glaskuppel befindet sich irgendetwas: Es sind kleinere, kompakte Kugeln, die an große Seifenblasen oder Schaumbälle erinnern, jede gefüllt mit Sofas, Liegesesseln – und dunklen Kisten. Orte, an denen man sich ausruhen und den Ausblick genießen kann.
Plötzlich packt mich die Kleine so fest an der Schulter, dass wir beide ins Schwanken geraten und ich mich am Geländer festhalten muss. »Die Frau ist aus einem bestimmten Grund hierhergekommen«, sagt sie. »Doch irgendwer oder irgendwas wollte sie auf keinen Fall hier haben.«
»Wer soll das gewesen sein?«
»Jedenfalls kein Freund.«
Derweil haben sich Picker und Satmonk bereits vom Ende der Brücke abgestoßen, um zu den schimmernden Seifenblasen hinaufzusteigen, und das Mädchen schließt sich ihnen an. Mit der mir eigenen Grazie folge ich ihnen und komme nach mehreren unbeholfenen
Wendemanövern auch tatsächlich oben an. Alle Flächen der eng beieinanderliegenden »Seifenblasen« sind mit einer dicken Staubschicht überzogen; zwischen jeder Blase liegt eine Öffnung, die Zugang gewährt. Sofort fällt mir auf, dass weitere Kleidungsfetzen in diesen stillen Refugien treiben. Refugien – schönes Wort.
Unverzüglich macht sich die Kleine daran, eine der Kisten zu öffnen, aber sie ist leer. Satmonk, der sich in einer anderen Seifenblase befindet,
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