Das Schiff - Roman
Zylinder, der von Glasvitrinen flankiert wird. Hier ist es ebenfalls kalt, aber irgendwie wirkt die Kälte anders: Sie scheint einem bestimmten Zweck zu dienen. Nach und nach hat das Licht eine intensive saphirblaue Färbung angenommen, wie im Inneren eines Gletschers . Dabei weiß ich gar nicht, was ein Gletscher ist, nur dass es da, wo wir ursprünglich herkamen, welche gab. Eisberge, die sich wie Flüsse fortbewegen konnten …
Vor meinem inneren Auge sehe ich eine Wand aus bläulichem Eis und weißem Schnee, vielleicht steigt auch jemand daran hinauf. Aber das Bild ist so vage, dass ich es lieber für mich behalte. Gletscher. Das Bild und die mit dem Wort verbundenen Assoziationen sind so faszinierend, dass ich, wäre ich allein, sofort stehen bleiben, die Augen schließen und in den visuellen, sogar haptischen Erinnerungen an Schnee und Eis schwelgen würde. Ich denke daran, wie ich auf langen Brettern dahingleite, erinnere mich an Polarkappen – und an Eiswürfel, die in bereiften Gläsern mit süßem Tee oder Limonade schwappten. Sehne mich nach diesem anderen Leben voller eiskalter Dinge, das mit dieser bitteren Kälte nichts zu tun hatte.
»Schau erst hin, wenn sie’s dir sagt«, ermahnt mich der Junge.
Natürlich schaue ich trotzdem hin, ich kann gar nicht anders. Die Vitrinen sind mit Raureif überzogen und sehen alle gleich aus. Nachdem wir an mindestens zwei Dutzend vorbeigelaufen sind, fordert die Frau mich auf, stehen zu bleiben, während der Junge mit widerlichem Grinsen meine Reaktion abwartet.
Überall dieses bläuliche Licht. Überall mit Raureif überzogene Vitrinen. Mir frieren schon fast die Füße ab. Das Mädchen ist so weit hinter uns zurückgeblieben, dass ich es nicht mehr sehen kann. Als ich etwas sagen will, stößt der Junge mich vorwärts.
»Die Vitrinen sehen wie Tiefkühltruhen aus, in denen Fleisch gelagert wird«, bemerke ich schließlich. Ich erinnere mich an den Geschmack von Rindersteak, Lamm und Schwein – an den Geschmack von Fleisch , das man kühl hält, damit es nicht verdirbt. Aber heutzutage isst ja niemand mehr Fleisch. Außer Fleisch gibt es auch noch Fisch – wieder dieses Wort! Ich denke an tiefgefrorenen Fisch, aufgestapelt wie Klafterholz , was immer das sein mag.
»Wir alle sind nur Fleisch, das darauf wartet, dass etwas mit ihm geschieht«, sagt die Frau. Offensichtlich freut sie sich über meinen Gesichtsausdruck und darüber, dass wir an das Gleiche denken.
»Aber wir gehören nicht hierher«, erwidere ich. Überall diese Vitrinen, rechts und links von uns, unter uns und über uns …
»Nein, nicht wenn wir noch am Leben sind«, räumt der Junge ein.
»Also gut«, seufzt die Frau. »Sieh dir das mal aus der Nähe an.« Sie beugt sich vor, um Raureif vom Glas zu wischen. Die Vitrine ist mit solchen Schlafkokons vollgestopft, wie ich sie vorhin gesehen habe, nur sind sie hier entfaltet. Es sind mindestens drei oder vier. Und jeder Kokon umschließt einen Körper. Nicht nur in dieser Vitrine, sondern auch in den benachbarten.
Manche Körper sind verstümmelt oder weisen klaffende Wunden auf. Bei einigen fehlen mehrere Gliedmaßen oder der Kopf. Und alle sind sehr bleich. Für Farbe sorgt hier nur die saphirblaue Beleuchtung. »Sind sie alle tot?«, frage ich.
»Schau sie dir genau an!«, fordert mich der Junge auf, packt mich am Hals und stößt meinen Kopf vor die Scheibe. Ich will mich dagegen wehren, möchte ihm eine runterhauen oder gründlich verprügeln … aber kann mich nicht dazu überwinden. Meine Nase klebt fast am eiskalten Glas fest. Vielleicht löst sich die Haut, wenn ich hier verharre, so wie früher …
Wenige Zentimeter vor mir fällt mir ein männlicher Kopf auf, der aus dem zu kurzen Kokon ragt. Das Gesicht wirkt hart, die Augen blicken leer, der Kiefer ist herunterklappt und in dieser Position erstarrt. Unterhalb der Taille baumelt der Kokon locker herunter: Dem Mann fehlt der Unterleib. Ich brauche einen Moment, bis ich merke, was ich vor mir habe.
Wen ich vor mir habe.
Die gleichen Gesichtszüge, wahrscheinlich auch die gleiche Haarfarbe. Um besser sehen zu können, beuge ich mich vor und wische Raureif weg, auch wenn die Hand dabei eiskalt wird. Der Körper unterhalb des Mannes ohne Unterleib ist mir im Profil zugewandt. Erneut wische ich Raureif weg. Dem Körper ganz oben fehlt der Kopf. Und der neben ihm wendet mir den Rücken zu.
Ich schiebe den Jungen aus dem Weg, wechsle die Seite, um mir weitere Leichen anzusehen,
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