Das Schiff - Roman
danach, während vor meinen Augen alles verschwimmt.
Wir werden unwissend geboren und sterben unwissend, denke ich. Doch es kann passieren, dass wir irgendetwas Wichtiges erfahren und es vor unserem Tod an andere weitergeben. Oder wir halten es in einem kleinen Buch fest.
»Die Gänge vor uns sind voller Tiefkühlvitrinen«, erklärt der Junge. »So weit ich vorgestoßen bin – und das ist nicht besonders weit, ich entferne mich nicht gerne von unserem Quartier –, sind da überall Leichen drin. Müssen Tausende sein!«
»Sie warten auf ihre Wiedergeburt«, meint das Mädchen. »Mutter wird sie beim nächsten Mal alle viel besser machen. Als Mädchen erschaffen, so wie mich.«
Der Junge zieht eine Grimasse. »Wir sollten uns jetzt lieber was zu essen besorgen.«
Der Mann aus dem Buch
W ie hier üblich, ist das Quartier des Jungen mit einer Matte und einem ausziehbaren Kokon ausgestattet. Außerdem entdecke ich ein verrücktes Gewirr aus Stangen und Sprungfedern, vielleicht sind es Trainingsgeräte. Von den Wänden und der Decke baumeln lange Kabel herunter, die bei Schwerelosigkeit sicher guten Halt geben. Doch der wichtigste Gegenstand in diesem Raum ist eine dicke Röhre, die mitten aus dem Fußboden ragt. Ganz oben ist ein viereckiger Hohlraum zu erkennen. Dieser Hohlraum produziert Nährriegel, und wenn man eine leere Flasche in die Öffnung hält, strömt aus einem Hahn, der sich später wieder einzieht, Wasser hinein.
Sobald das Schiff eine Person erkennt, bekommt sie alles, was zum Überleben unbedingt nötig ist, aber auch kein Quäntchen mehr – so wie ein Hamster .
Nach dem Essen sind alle still, und irgendwie merke ich, dass sie von mir erwarten, mich in einen anderen Raum zurückzuziehen – am Gang stehen mehrere Türen offen – und dort in Ruhe mein Buch zu lesen. Das ist zwar das Letzte, wonach mir der Sinn steht, aber offenbar ist das eine Art Ritual. Ich habe diese Situation schon früher erlebt.
Vielleicht bin ich hier der einzige Unterhaltungsfaktor?
Bei diesem Gedanken wird mir beinahe übel. Ich überlasse die anderen ihren Hirngespinsten und versinke so in den eigenen Gedanken und Gefühlen, dass mich die Schwerelosigkeit auf dem falschen Fuß erwischt. Ich gerate ins Stolpern und muss mich auf allen vieren gegen den Sog stemmen, um hastig in mein kleines, schlechter ausgestattetes Zimmer zu krabbeln, ehe ich jede Bodenhaftung verliere.
Dort angekommen, lasse ich mich langsam von einer Wand zur anderen und von der Decke zum Boden treiben, ohne mich an den Kabeln festzuhalten. Ich tue einfach so, als läge ich entspannt auf dem Rücken.
Ich kann mich nicht dazu überwinden, das verdammte Buch aufzuschlagen. Es macht mir Angst. Ich bin so, wie ich bin. All diese anderen Versionen von mir … Nun ja, ich habe gute Gründe, ihnen die Existenz abzusprechen, denn wenn ich sie akzeptiere, stehe ich vor einem unlösbaren Problem: dem meiner Identität.
Das, was irgendwo in meinem Gedächtnis verborgen ist und darauf wartet, dass ich es ausgrabe, entspricht vielleicht genau dem, was in diesem Notizbuch festgehalten ist. Gut möglich, dass eine andere Version schon all das weiß, was ich weiß, alle mir möglichen Entscheidungen getroffen hat und mir keine neuen Wahlmöglichkeiten mehr lässt. Gut möglich, dass diese Version mein ganzes Leben bereits durchlebt hat.
Als ich mir das Buch näher ansehe, kommt es mir irgendwie wie mein Buch vor. Es hat kleine Besonderheiten,
die ich vielleicht irgendwann wiedererkennen werde und dann aufgrund meiner Erinnerungen zuordnen kann. Aber eigentlich sträube ich mich bislang gegen diesen Gedanken. Ich bin so, wie ich bin, und es gibt im ganzen Universum keinen anderen wie mich, stimmt’s? Das ist und bleibt eine Tatsache.
Bis ich das Buch aufschlage.
Eine ganze Stunde lang habe ich es in den Händen gehalten und hin und her gewendet. Es besteht aus Kunststoffblättern, die jedoch dünner sind als die Folie in meiner Hosentasche. Dicker, aber bereits bröckelnder Klebstoff sorgt dafür, dass die Blätter – die Seiten – zwischen den schwarzen Buchdeckeln haften bleiben. Die Deckel sehen abgegriffen und angeschmutzt aus und so, als hätte jemand sie von einem größeren Bogen abgerissen oder abgebrochen. Von einem Fundstück aus der Abfallkammer des Schiffs? Die angeschmutzten Stellen könnten Blutflecken sein. Auch die Seitenränder weisen solche dunklen Flecken auf.
Es könnte glatter Selbstmord sein, das Buch nicht aufzuschlagen und darin
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