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Das Schiff - Roman

Das Schiff - Roman

Titel: Das Schiff - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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tanze vor den Glasscheiben hin und her, bücke mich, recke mich nach oben. Überall tiefgefrorene Tote. Als ich zur nächsten Reihe renne, vor Kälte brennen mir schon die Hände, genau dasselbe …
    Dutzende von Vitrinen mit Hunderten von Toten. Sie scheinen sich bis ins Endlose fortzusetzen, bis in die bläuliche Ferne. Mittlerweile habe ich mir zwanzig oder mehr Vitrinen auf beiden Seiten angesehen. Und die Gesichter, in die ich geblickt habe, sahen alle aus wie mein eigenes. Alle gleich. Meine Ebenbilder.
    »Kapierst du’s jetzt?«, fragt mich der Junge, vor Erregung zitternd. Die Frau hat ihre Arme verschränkt, kaut an ihren Fingernägeln und spuckt einen Nagelsplitter aus.
    All die zurückgekehrten Erinnerungen, all die wiedergefundenen Wörter bedeuten mir jetzt nichts mehr. Ich will nicht nachdenken, will gar nichts begreifen, will nichts mehr wissen.
    »Wir sollten hier nicht so lange bleiben, bis die Schwerelosigkeit einsetzt«, sagt die Frau. »Könnte gefährlich für uns werden.«

    Sanft nimmt sie meinen Arm und führt mich den langen Weg zurück, heraus aus dem blauen Licht, auf die wärmeren Räume zu, wo man Nahrung erhält, wo lebende Menschen willkommen sind.
    Sie schieben mich durch eine Tür, hinter der mich Wärme und ein süßlicher Geruch empfangen. Es duftet nach Blumen und Dschungel. Der Junge und die Frau bleiben einfach stehen, während ich vorwärts stolpere, auf die Knie falle und auf einer Matte zusammensinke.
    Und wie ein kleines Kind heule.
    Das scheint dem Jungen zu gefallen. Die Frau wirkt eher verblüfft. »So schlimm ist es doch gar nicht«, versucht sie mich zu beruhigen. »Schließlich kehrst du ja immer wieder zurück.«
    All das habe ich schon früher erlebt, ich kann es nicht mal vor mir selbst verleugnen. Schon hundertmal, vielleicht sogar tausendmal habe ich das hier erlebt. Und trotzdem das zu tun versucht, was ich tun muss – was immer das auch sein mag. Und jedes Mal habe ich versagt.
    Jedes Mal habe ich dabei den Tod gefunden.

ZWEITER TEIL
Der Teufel

    U nd du hast tatsächlich so ein Mädchen wie mich gesehen? «, fragt die Kleine.
    Schwitzend fahre ich aus tiefer Benommenheit hoch und wälze mich auf der Matte herum. Offenbar habe ich Fieber. Irgendjemand hat mich in einen Kokon verfrachtet, und ich habe fest geschlafen. Wie ich an den Muskeln spüre, habe ich eine ganze Phase der Schwerelosigkeit verschlafen, und jetzt ist die Schwere wieder da. Ächzend schiebe ich mich aus dem Kokon und bleibe keuchend auf der Matte liegen. Die Ränder der Handflächen tun mir höllisch weh – Frostbeulen!
    Gierig greife ich nach der Wasserflasche, die mir das Mädchen reicht, setze mich auf und trinke.
    »Du hast also wirklich so ein Mädchen wie mich gesehen? «, wiederholt die Kleine erwartungsvoll.
    »Ja, sah genauso aus wie du.« Ich nehme noch einen Schluck Wasser. Langsam wird es heller im Zimmer.
    »Und? Hatte sie ein Buch dabei?«
    »Ja.«
    »Hast du’s gelesen?«
    »Dafür war keine Zeit. Ich wollte es ihr zurückgeben … beim nächsten Wiedersehen. Eine Zeit lang
habe ich auch ihr Essen und ihr Wasser für sie aufbewahrt, aber …«
    Das Mädchen nickt. »Wo wollte sie denn hin?«
    »Weiter zum Bug.«
    Die Frau taucht in einem runden Durchgang zwischen den Zimmern auf und bleibt kurz stehen. Schon wieder kaut sie an den Fingernägeln. Da das nur in den Phasen der Rotation (und Schwere) richtig klappt, ist es sicher ganz schön aufwendig, auf diese Weise Nagelpflege zu betreiben und alle zehn Nägel zu kürzen. »Jetzt bist du wirklich zurückgekehrt«, bemerkt sie.
    Mir fällt keine Antwort darauf ein.
    »Was weißt du eigentlich? Was hast du an den Orten, wo du gewesen bist, in Erfahrung gebracht?«, fragt mich das Mädchen.
    Berechtigte Frage. Ich wundere mich nur, dass sich die Kleine erst jetzt nach meinen Erfahrungen erkundigt. Vielleicht nimmt sie an, dass ich irgendetwas Wesentliches weiß, aber vorher nicht vernünftig darüber reden konnte. Ich überlege, was ich ihr sagen kann. Viel ist es nicht.
    »Wie viele Versionen von mir habt ihr kennengelernt? «, frage ich.
    »Zehn«, erwidert die Frau. »Sie waren auf dem Weg nach vorn, aber die Reiniger haben einige von ihnen zurückgeholt und in die Gefrierschränke gestopft. Die Kleine ist allein hier angekommen. Sie behauptet, es gäbe noch andere wie sie, aber mehr will sie mir nicht verraten. Vielleicht kannst du sie dazu überreden.« Die
beiden wechseln Blicke, aber die Kleine bleibt stur. Sie hat einen

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