Das Schiff - Roman
sie sich vermutlich irgendwo fest und warten geduldig auf die Änderung des Drehimpulses.
Die Stelle, von der ich mich abstoßen will, ist ein relativ glatter, breiter Schachtsims unmittelbar oberhalb der letzten Leitersprosse. Ich überlege, ob ich nicht lieber diese Sprosse dazu benutzen soll. Aber sie ist zu schmal für meine Füße.
Da die Situation hier höchstens noch schlimmer werden kann, krabbele ich schließlich wie eine Raupe zum Schachtrand hinauf (wieder so ein amüsanter, aber nutzloser Begriff – Raupen sind irgendwelche Frühstadien von Insekten, glücklicherweise aber keine Spinnen), setze mich rittlings auf den Sims, umklammere ihn mit beiden Schenkeln, richte mich auf, verstärke den Griff, biege den Rücken durch, setze meine Füße
fest auf die Kante, beuge die Knie durch, werfe einen Blick über die Schulter …
… und sehe, dass mich ein riesiger Schuttbrocken, so groß wie ein Pferd , nur knapp verfehlt hat. Keine Ahnung, was ein Pferd ist, spielt auch keine Rolle.
Ich stoße mich fest und in offenbar geeignetem Winkel vom Schachtsims ab und segle mit befriedigendem Tempo durch den Hohlraum. Sieht immer noch gut für mich aus. Ich ziehe beide Arme und ein Bein ein, um einem herumwirbelnden Rohrstück auszuweichen, das so breit ist wie mein Oberschenkel. Was dazu führt, dass ich mich wie ein Kreisel drehe. Ich kann zwar nichts dagegen tun, aber wenigstens ist die Drehung so langsam, dass mir keine Gefahr droht, es sei denn, ich stoße mit irgendeinem scharfen Gegenstand zusammen. Und davon gibt es hier viele. Da ich nichts Besseres zu tun habe, zähle ich die Umdrehungen mit. Als ich bei der fünften angekommen bin, schiebt sich etwas Großes, Durchsichtiges vor das Licht, das aus der Bruchstelle des Schotts sickert. Es könnte aber auch sein, dass mir der Film in die Augen gedrungen ist und meinen Blick trübt. Falls da oben wirklich etwas ist, will ich es eigentlich auch gar nicht sehen, blicke aber trotzdem hin. Und kann etwas ausmachen, das mir Rätsel aufgibt, denn es wirkt wie ein Tier aus gebündelten Glasstäben mit einem einzigen Farbfleck: Ein knallroter Punkt zeigt mir, dass sich das Ding in meine Richtung bewegt.
Noch etwa zehn Sekunden bis zur Bruchstelle. Meine Luftpirouette raubt mir den letzten Nerv, da sie mich
daran hindert, ständig ein Auge auf die von Rissen durchzogenen, einsturzgefährdeten Schachtwände, die umhertreibenden Trümmer und das Ding mit dem roten Fleck zu halten. Ist das gläserne Gebilde näher gerückt? Verfolgt es mich?
Noch fünf Sekunden bis zum Ziel. Ich strecke die Hand aus und klammere mich an einer vor mir schwebenden Platte fest, um meine Kreiselbewegung zu stoppen. Als ich mich von ihr abstoße, treibe ich allerdings in die falsche Richtung. Ich strecke die Hände so weit wie möglich vor, bis ich mit zwei Fingern Halt am angesengten, verzogenen Schachtrand finde. Nach einigen sehr unbeholfenen Versuchen schaffe ich es, mich hochzustemmen und durch die Bruchstelle des Schotts zu zwängen. Ich lande in einem stillen Raum voll bläulichen Lichts, der sich ins Endlose zu erstrecken scheint.
Und starre in das größte Auge des ganzen Universums.
Das Innerste
D as Auge ragt hoch über mir auf – eine gewölbte, durchsichtige Wand, etwa hundert Meter breit. Ich bin in einem Raum gelandet, der wie ein riesiges Brillenglas vor diesem Auge sitzt. Hinter dem Auge entdecke ich flüssiges Wasser – jede Menge wunderbares blaugrünes Wasser mit erstaunlich vielen großen und kleinen Blasen. Das Wasser bewegt sich träge in den letzten Luftströmungen der jüngsten Rotation: Es schwappt und schwabbelt, so dass sich die Blasen brechen, um sich gleich darauf wieder miteinander zu verbinden – wie die Bläschen in einer Sprudelflasche.
Das Auge hat ungeheure Tiefe, denn hinter dem durchsichtigen Glas befindet sich ein Tank mit immensem Fassungsvermögen, wie ich voller Ehrfurcht feststelle. Einer Ehrfurcht, die mich fast lähmt. Nachdem sich mein Herzschlag und die Atmung wieder beruhigt haben und ich mich vergewissert habe, dass mir keine unmittelbare Gefahr droht, rührt dieser Anblick irgendetwas in meinem Gedächtnis auf, und mir fallen plötzlich einige grundlegende Dinge aus der Traumzeit ein.
Das Schiff benötigt Treibstoff und Reaktionsmasse. Für beides sorgt der kleine Eismond. Abbaumaschinen
auf dessen Oberfläche brechen Eisbrocken heraus, die zum Schiff befördert und dort in Tanks gelagert werden. Daher die serpentinenartige Furche
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