Das Schiff - Roman
bin mir sicher, dass sie mich – diese Version – von früher her kennt. Und auch ich bin dieser Version des Mädchens schon begegnet. »Bist du diejenige, die mich aus dem Sack gezogen hat?«
Als sie nickt, empfinde ich diese Reaktion als merkwürdig menschlich. Und das bedeutet natürlich, dass ich das Mädchen mittlerweile als irgendetwas anderes betrachte, ohne dass ich einen Grund dafür angeben könnte.
»Sie war deine Geburtshelferin«, wirft der Gelbe mit volltönender Stimme ein. Ich würde ihn gern mal singen hören. Überhaupt würde ich gern mal wieder Musik hören, egal, welche. Seltsam, dass ich gerade jetzt an Musik denken muss. Dankbar entleere ich einen Großteil
der Wasserflasche über meinem Kopf und spüle mir vor allem Augen und Mund aus. Bald darauf legt sich das Brennen. Nach einem letzten Schluck Wasser will ich der Kleinen die Flasche zurückgeben.
»Nein, die gehört dir«, sagt sie. »Aber ich hab mein Buch zurückgelassen. Hast du’s gefunden?«
»Ja, ich hab’s in einem Beutel gefunden, nur hat es mir irgendjemand gestohlen. Eine silberne Gestalt …«
»So was gibt’s hier doch gar nicht!«, erwidert die Kleine mit hartem Blick.
»Ganz wie du meinst. Ich glaube, eine deiner Versionen hat eine Zeichnung im Schacht hinterlassen. Mit Blut gemalt. Was sollte die Skizze bedeuten?«
Jetzt weicht ihr gereizter Gesichtsausdruck Betretenheit.
»Vorsicht«, warnt mich der Gelbe. »Sie ist dein Schutzengel. Du bist auf sie angewiesen!«
Für den Augenblick kann ich es dabei belassen. »Und was war dieses gläserne Gebilde mit dem roten Fleck?«
»Ein Element«, sagt der Gelbe. »Allerdings hab ich so eines noch nie zuvor gesehen.«
»Ein Killer«, erklärt das Mädchen.
»Und was ist mit Picker und Satmonk passiert?«
Die Kleine schüttelt resigniert den Kopf. »Es sind starke und liebenswürdige Wesen, aber sie halten nie lange durch.«
»Und deine Schwester?«
»Frag lieber nicht«, rät mir der Gelbe.
Die Kleine geht über die Frage einfach hinweg. Ich reibe mir den Arm, denn die Muskelzerrung tut sehr
weh, sogar mehr als die Wunde an sich. Aber es hätte ja noch viel schlimmer kommen können, zum Beispiel, wenn der Speer einen Knochen durchbohrt hätte. »Mit welcher Waffe hast du auf mich geschossen?«, frage ich.
Der große Gelbe hebt die Abschussvorrichtung hoch, eine zu einem Bogen geformte Metallfeder, bespannt mit einer gedrehten schwarzen Sehne. Der Speer ist nichts anderes als eine dünne Hohlröhre, deren Widerhaken ebenfalls aus Metall bestehen. Sie sind in grob geschnittene Einkerbungen an der Spitze eingelassen und werden durch einen Federmechanismus ausgelöst. Wenn man in einer bestimmten Richtung an der am Speer befestigten Leine ruckt, ziehen sich die Widerhaken ein. Der Gelbe wackelt mit dem Bogen hin und her: Er ist bei diesem Manöver in zwei Teile zerbrochen. »Hab ihn in einem Abfallhaufen gefunden. Jetzt ist er kaputt.«
»Tut mir leid«, sage ich.
Er grinst leicht verkrampft. »Muss ich mir eben einen anderen suchen.«
Offenbar befinden wir uns in einem Raum, der tatsächlich für den längerfristigen Aufenthalt von Menschen vorgesehen ist. Er sieht völlig anders aus als die mir bekannten nüchternen Zimmer mit den Schlafmatten und Schränken, selbst komfortabler als das auf den Jungen zugeschnittene Domizil. Dieser Raum wirkt stilvoller und individueller und ist sogar hübsch dekoriert. Die Wände sind mit Netzen verkleidet, die gläserne Objekte in vielen Farben und Formen bergen.
Die gewölbte Decke ist mit Bildern von Bäumen und Wolken bemalt, was die Illusion erzeugt, wir säßen an einem schattigen Plätzchen unter irgendeinem Baum. Das beschwört bei mir Bruchstücke von Erinnerungen herauf – Erinnerungen an Poesie und Erinnerungen an Botanik.
Der Gelbe und das Mädchen wippen langsam auf den Zehen auf und ab und beobachten mich dabei aufmerksam. Warten auf irgendeine Reaktion. Ich bemühe mich um ein Lächeln. »Sehr hübsch hier.« Ich habe mir noch keinen umfassenden Überblick über den Raum verschafft, aber die menschliche Note ist nicht zu übersehen und wirkt sehr anheimelnd. Irgendjemand muss hier eine Zeit lang gelebt haben, allerdings glaube ich nicht, dass es meine derzeitigen Gastgeber waren.
Die Zentrifugalkraft wirkt hier nicht stärker als am Wassertank. Wie ein Balletttänzer drehe ich mit ausgestreckten Armen auf der Zehenspitze eine Pirouette, stoße mich leicht ab, steige nach oben und lasse mich danach auf das
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