Das Schlangennest
sein. Ich habe in ihrer Schwester stets ein Opfer gesehen."
"Was so ziemlich genau den Nagel auf den Kopf trifft", best ätigte Daphne. Sie erzählte, was sie von der Ehe ihrer Schwester wußte. "Laura ist auf Richard Hammond regelrecht hereingefallen. Sie war knapp neunzehn, als sie sich kennenlernten. Es imponierte ihr, von einem Mann umschwärmt zu werden, der fünfundzwanzig Jahre älter als sie war. Außerdem galt Sir Richard als gute Partie, und er hatte als Richter einen guten Namen. Jedenfalls versprach er Laura das Blaue vom Himmel, aber schon kurz nach der Hochzeit mußte meine Schwester feststellen, daß von seinen Schwüren nichts geblieben war."
"Liebte Ihre Schwester ihren Mann?"
"Ja, jedenfalls noch zu Beginn ihrer Ehe. Später empfand sie nur noch Verachtung für ihn. Sie müssen wissen, daß mein Schwager es mit der Treue nicht genau nahm. Er ging dabei sehr geschickt vor. Es drang niemals etwas an die Öffentlichkeit, aber dennoch werden wohl einige Leute davon gewußt haben."
"Das ist anzunehmen." Ralph stand auf und nahm seiner Sekret ärin, die in Zimmer kam, das Teetablett ab. "Danke, Mary, im Moment wäre das alles", sagte er und trug das Tablett zu einem kleinen Tischchen. Er schob ihn zwischen die Sessel.
"Ich schenke ein", bot Daphne an und griff nach der Te ekanne.
"Danke." Er lächelte ihr zu. "Vermutlich war die Familie nicht gerade erfreut, als Sie gestern nach Hammond Hall kamen", b emerkte er und blickte ihr ins Gesicht.
"Bis auf Claudine hat mich jeder aufgefordert, den Besitz so schnell wie möglich wieder zu verlassen." Daphne reichte ihm eine Tasse. "Seit unserem letzten Treffen scheint sich Claudine völlig gewandelt zu haben. Sie ist mir nie zuvor so freundlich entgegeng ekommen. Ich..." Sie hob die Schultern.
"Was wollten Sie sagen, Miß Baker?"
"Ich weiß nicht recht, ob ich Claudine trauen kann. Sie ist so anders, als bei meinen früheren Besuchen." Sie sah ihn an. "Vielleicht hat sie der Tod ihres Bruders geläutert, jedenfalls gibt sie mir das Gefühl, auf Hammond Hall willkommen zu sein."
"Ich selbst bin aus Mistreß Forest niemals sonderlich klug g eworden", gestand der Rechtsanwalt. "Sie scheint mir eine sehr zwiespältige Persönlichkeit zu sein."
"Genau wie es ihr Bruder gewesen ist. Einerseits geachteter Richter, andererseits ein Mann, der sich skrupellos über die Wü nsche seiner Mitmenschen hinwegsetzen konnte." Die junge Frau dachte an Maud Willis. Sie war überzeugt, daß ihr Schwager damals einen Meineid geleistet hatte.
Ralph setzte seine Teetasse auf den Tisch. "Trauen Sie es Ihrer Schwester zu, ihren Mann erstochen zu haben?"
"Nein." Daphne schüttelte den Kopf.
"Auch nicht in einem Anfall unsagbarer Wut?"
Die junge Frau dachte nach, dann schüttelte sie erneut den Kopf. "Davon abgesehen, kann es kein Mord im Affekt gewesen sein, Doktor Gregson. Vergessen Sie nicht, Richard wurde in der Bibliothek ermordet, nicht in Lauras Zimmer. Wäre Laura die Täterin, müßte sie den Mord geplant haben, sonst wäre die Tat mit einer anderen Waffe ausgeführt worden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Brieföffner meiner Schwester seinen Platz auf dem Tisch in der Bibliothek hatte."
Ralph Gregson lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Für einen Moment wirkte er völlig entrückt. "Ja, das stimmt", meinte er nach einigen Sekunden und richtete sich wieder auf. Nachdenklich starrte er auf das Muster der Tischdecke. "Es muß ein geplanter Mord gewesen sein." Er schlug die Fingerspitzen gegeneinander. "Ihre Schwester erzählte mir von einer gesichtsl osen Frau, die sie in jener Nacht gesehen haben will", fügte er bedächtig hinzu.
"Als Laura mich anrief, sprach sie auch vom Geist der Maud Willis", gab Daphne zu. "Kennen Sie diese Geschic hte?"
"Ja." Ralph nickte. "Allerdings bin ich kein Mensch, der davon ausgeht, daß die Geister Verstorbener nur im Sinn haben, an L ebenden Rache zu nehmen." Aufseufzend schüttelte er den Kopf. "Ich bin mir nicht sicher, ob Ihre Schwester selbst an diese Version der Geschichte glaubt. Die Polizei konnte sie jedenfalls nicht davon überzeugen."
"Ich frage mich, warum Sie Lauras Verteidigung übernommen haben, Doktor Gregson", erwiderte Daphne scharf. "Ich war i mmer der Meinung, daß wenigstens der Verteidiger von der Unschuld seines Klienten überzeugt sein sollte."
"Im Augenblick weiß ich noch nicht, was ich von all dem ha lten soll", gab der junge Mann zu. "Wie gesagt, ich sah in Ihrer Schwester stets ein
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