Das Schlangennest
Opfer. Deshalb habe ich ihre Verteidigung übernommen. Ich habe nie sehr viel für Sir Richard übriggehabt. Ich hielt ihn für einen Heuchler, für einen durch und durch unaufrichtigen Menschen. Er..." Ralph runzelte die Stirn. "Warum lächelnd Sie, Miß Baker?" wollte er wissen.
Daphne war es nicht einmal bewußt geworden, daß sie lächelte. "Ihre Meinung über Sir Richard deckt sich mit meiner", gab sie zu und bot ihm die Hand. "Ich bin sehr froh, daß Sie Laura vertreten. Sagen Sie, wäre es möglich, daß Sie mir einen Besuchstermin bei meiner Schwester besorgen könnten? Ich muß Laura unbedingt sprechen."
"Das dürfte nicht weiter schwierig sein", erwiderte Ralph. "Ich nehme an, auch in bezug auf die Kinder ist einiges zu klären. Ihre Schwester sagte mir, daß Sie eine vielbeschäftigte Frau wären. Vermutlich können Sie sich nicht um die Kinder kümmern."
"Mein Chef hat mir unbegrenzt Urlaub gewährt. Ich habe heute morgen mit ihm telefoniert." Daphne nippte an ihrem Tee. Sie stellte fest, daß er inzwischen kalt geworden war. "Es stimmt, bisher ist mir meine Karriere immer wichtiger als alles andere gewesen. Ich arbeite als Direktionsassistentin bei einem großen Konzern und ich wollte noch mehr erreichen, aber das ist plötzlich nebensächlich geworden. Meine Schwester und die Kinder bra uchen mich. Alleine das zählt."
"Ich bin sehr froh, daß Sie das sagen, Miß Baker", meinte der Rechtsanwalt. "Ihre Schwester macht sich große Sorgen um die Kinder. Sie möchte sie nicht den Forests und den Hammonds überlassen. Etwas, was ich nur zu gut verstehen kann." Er beugte sich leicht vor. "Wenn Sie einverstanden sind, dann werde ich mich darum kümmern, daß man Ihnen das vorläufige Sorgerecht für Robert und Joyce überträgt."
"Sie würden mir damit einen großen Gefallen tun", erwiderte sie und diesmal galt ihr Lächeln nicht dem, was er gesagt hatte, sondern ihm selbst. Im Laufe der letzten Jahre hatte es Daphne gelernt, andere Menschen genau einzuschätzen. Sie fand Ralph Gregson nicht nur sympathisch, sie hielt ihn auch für einen bemerkenswerten, jungen Mann, der genau wußte, was er wollte. Auch wenn sie ihn erst vor knapp einer Stunde kennengelernt hatte, sie war überzeugt, daß er sich voll und ganz für ihre Schwester einsetzen würde. Einen besseren Anwalt als ihn, hätte Laura nicht finden können.
8.
Bereits am nächsten Vormittag konnte Daphne mit ihrer Schwester in der kleinen Haftanstalt von Barnstaple sprechen. Es fiel ihr schwer, sich nicht anmerken zu lassen, wie erschrocken sie über Lauras Aussehen war. Die halblangen, blonden Haare hingen strohig um Lauras überschmales, bleiches Gesicht. Ihre blauen Augen hatten jeglichen Glanz verloren. "Es wird alles wieder gut. Du mußt nur fest daran glauben", ve rsicherte sie ihr.
"Bist du wirklich davon überzeugt?" Lauras Blick glitt zu der Beamtin, die neben der Tür saß. "Ich hätte nicht gedacht, daß ich jemals verhaftet werden würde. Trotz aller Kümmernisse verlief mein Leben in geordneten Bahnen." Sie hob die rechte Hand und betrachtete ihre Fingernägel. "Es ist nicht der Luxus, den ich ve rmisse, am meisten fehlen mir die Kinder. Ich sehne mich danach, Joyce und Bobby in die Arme zu nehmen, ihnen zu versichern, wie sehr ich sie liebe."
"Deine Kinder wissen, daß du sie liebst, Laura", erwiderte D aphne leise. Sie öffnete ihre Tasche und nahm die Bilder heraus, die Robert und Joyce für ihre Mutter gemalt hatten. "Sie glauben nicht, daß du Richard erstochen hast", fügte sie hinzu.
Laura betrachtete lange die Bilder. "Spricht Joyce immer noch nicht?" fragte sie und strich sich über die Augen.
"Sie hat noch kein Wort gesagt. Ich möchte mit ihr zum Arzt gehen."
"Das hatte ich auch vor." Laura warf erneut einen Blick auf Joyces Bild. "Es ist seltsam", meinte sie. "Die Kinder bekamen nichts davon mit, was für ein Durcheinander in jener Nacht auf Hammond Hall herrschte. Sie schliefen ruhig in ihren Betten. Doch als ich am Morgen nach oben ging, um ihnen zu sagen, daß ihr Vater tot ist, kam mir Joyce im Schlafanzug entgegen. Über ihr Gesichtchen rannen Tränen. Ich schloß sie in die Arme. Ich spürte, daß sie vom Tod ihres Vaters wußte, obwohl mir Nancy versichert hatte, daß noch niemand von der Familie bei den Kindern gewesen war. Ich versuchte, Joyce zu beruhigen. Sie wollte etwas sagen, aber sie brachte kein Wort hervor."
Daphne sah ihre Schwester nachdenklich an. "In jener Nacht war Vollmond. Hast du mir
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