Das Schlangennest
Straße zu einem kleinen Café, das am Ufer des Taw lag.
"Ich würde gerne draußen sitzen", meinte Daphne.
"Ihr Wunsch ist mir Befehl, Madam!" Ralph vollführte eine übertriebene Verbeugung.
Solange Joyce mit ihnen am Tisch saß, sprachen sie nur über ganz allgemeine Dinge, doch kaum war das kleine Mädchen au fgestanden und zu dem Spielplatz gelaufen, der zum Café gehörte, wandte sich ihr Gespräch Dr. Miller zu. Daphne erzählte, daß der Psychotherapeut überaus zufrieden mit der heutigen Sitzung gewesen war und es auch als ein gutes Zeichen ansah, daß Joyce im Schlaf gesprochen hatte.
"Habt ihr heute etwas mehr über jene Nacht erfahren?" fragte Ralph.
Sie schüttelte den Kopf. "Nein, leider nicht. Joyce wehrt sich selbst in der Hypnose, sich an jede Einzelheit zu erinnern, aber Doktor Miller ist überzeugt, im Laufe der Zeit diese Blockade lösen zu können." Die junge Frau blickte zu dem kleinen Mädchen hinüber, das sich auf die Schaukel gesetzt hatte und alles um sich herum zu vergessen schien. "Sie erscheint mir so verletzlich, so hilflos", sagte sie.
"Joyce wird es schaffen", meinte Ralph. "Ich war heute morgen bei deiner Schwester. Sie läßt dir viele Grüße b estellen."
"Danke. Wie geht es ihr? Wann kann ich Laura wieder bes uchen?"
"Deine Schwester ist sehr niedergeschlagen. Allerdings erhe iterte es sie, als ich ihr erzählte, was sich bei der Testamentseröffnung zugetragen hat. Sie meinte, jetzt hätte ich die Familie wenigstens einmal richtig kennengelernt."
"Arme Laura."
"Sie wird es schaffen." Ralph drückte Daphnes Hand. "Du kannst deine Schwester am Montag nachmittag besuchen. Ich habe alles geregelt."
"Danke." Daphne lächelte ihm zu. "Was sollte ich nur ohne dich machen, Ralph?"
"Was tu' ich schon mehr, als meinen Job?"
"Ach, es gehört zu deinem Job, die Angehörigen eines Ve rdächtigen zu trösten?" Seine Freundin drohte ihm mit dem Finger. "Ich denke nur an unseren letzten Spaziergang. Laß dich nicht dabei erwischen, wenn du eine andere küßt."
"Ich werde vorsichtig sein", scherzte der junge Mann. "Sehr vo rsichtig." Vergnügt zwinkerte er ihr zu.
"Das kann ich dir nur raten." Daphne beugte sich blitzschnell vor und küßte ihn auf die Wange. "Ich bin so froh, daß es dich gibt, Ralph", bekannte sie. "So unendlich froh."
17.
An diesem Abend ging Daphne sehr spät zu Bett. Bis kurz vor elf hatte sie noch in der Familienchronik der Hammonds gelesen. Es war eine überaus interessante Lektüre. Über die Jahrhunderte hinweg hatten immer wieder Hammonds eine bedeutende Rolle in der Geschichte des Landes gespielt. Kein Wunder, daß Claudine so stolz auf ihre Familie war.
Tief in Gedanken löschte die junge Frau das Licht. Es hatte sie überrascht, daß in der Chronik sogar die Gesichtslose Frau e rwähnt worden war. Allerdings hatte Sir Richard, der die Chronik während der letzten Jahrzehnte geführt hatte, nur seine Version der Geschichte erzählt. Daphne konnte ihrem Schwager nicht verdenken, daß er es nicht über sich gebracht hatte, sich des Meineids zu beschuldigen.
Schon bald fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Es kam ihr vor, als hätte sie nur wenige Minuten geschlafen, als sie plöt zlich von einer eisigen Kälte geweckt wurde. Sie schlug die Augen auf. Erschrocken stieß sie den Atem aus. Ganz deutlich erkannte sie im Dunkel des Zimmers die verschwommene Gestalt einer Frau.
"Wer sind Sie?" stammelte sie, obwohl sie die Antwort kannte. Aber ihr Verstand wollte nicht wahrhaben, was ihre Augen sahen.
Die Frau antwortete ihr nicht. Wortlos schwebte sie näher auf das Bett zu. Jetzt sah Daphne ganz deutlich, daß ihrem Gesicht Augen, Nase und Mund fehlten. Es bildete eine einzige, glatte Fläche.
Das gibt es nicht, dachte sie und bemühte sich, nicht in Panik auszubrechen. Es gibt keine Geister. Die Gesichtslose Frau ist nichts als die... "Wer... wer sind Sie?" flüsterte sie heiser. "Was wollen Sie von mir?" Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen.
Plötzlich glaubte Daphne den Namen ihrer Nichte zu hören. Aus allen Ecken des Zimmers schien ihr 'Joyce' entgegenzuklingen.
"Joyce!" stieß sie hervor. "Was ist mit Joyce?" Sie vergaß ihre Furcht vor dieser unheimlichen Gestalt. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett. Im selben Moment löste sich die Gestalt in einem grauen Nebel auf und schwebte aus dem Fenster.
Daphne nahm sich nicht die Zeit, erst in Morgenrock und Hausschuhe zu schlüpfen. Barfuß rannte sie aus dem Zimmer und eilte
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