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Das Schlangenschwert

Das Schlangenschwert

Titel: Das Schlangenschwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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ich durch ein Gemurmel. Ich öffnete die Augen und schaute auf das andere Bett, in dem Lion schlief. Natürlich war er es, der sprach. Das passierte ihm manchmal im Schlaf. Aber normalerweise sprach er unverständlich, während ich jetzt aber Worte unterscheiden konnte:
    »Gleich... gleich... gleich...«
    Mich schauderte. Lion redete im Schlaf, und ich erinnerte mich daran, dass ich einige Male genauso versucht hatte, meine Mutter loszuwerden, wenn sie mich nicht in Ruhe ließ.
    »Gleich... gleich stehe ich auf... noch eine Minute...«
    »Lion!«, rief ich laut.
    »Ja, gleich...«, brummte er unzufrieden.
    Es schien, als wäre er völlig normal.
    »Lion!«, schrie ich, sprang auf, lief zu seinem Bett und rüttelte ihn an den Schultern. »Wach auf, es ist höchste Zeit!«
    Er öffnete die Augen.
    »Lion, steh auf«, bat ich kläglich.
    Und er stand gehorsam auf. Er gähnte und zitterte vor Kälte – für die Nacht hatte ich eine zu niedrige Zimmertemperatur eingestellt und die Heizung war noch nicht angesprungen.
    »Lion...«
    Er wartete geduldig.
    Ich setzte mich auf sein Bett und sagte: »Verzeih mir, ich dachte, dass es dir besser gehen würde. Verstehst du?«
    Lion schwieg.
    »Du verstehst alles, das weiß ich«, erklärte ich und schaute dabei nicht auf ihn, sondern durch das Fenster auf die Morgenröte, »du verstehst alles und quälst dich. Lion, bitte, kämpfe! Zwinge dich, Lion. Du wirst auf alle Fälle gesund, das sagen alle. Aber es kann einige Jahre dauern. Wir werden erwachsen und verändern uns. Dabei haben wir uns doch gerade erst angefreundet. Stimmt’s?«
    Er schwieg.
    »Setz dich«, bat ich und Lion setzte sich. Ich warf ihm eine Decke über die Schultern und sagte: »Weißt du, ich habe doch überhaupt niemanden. Da sind Gleb und Dajka, das sind meine Freunde vom Karijer. Aber sie sind weit weg, so, als ob es sie nicht gäbe. Es bleibt nur die Erinnerung. Und Mama und Papa sind gestorben. Damit ich leben kann. Stasj ist auch noch da, aber er lebt sein eigenes Leben und hat zu tun, ich habe ihn schon zwei Wochen nicht gesehen. Dann kenne ich noch Tarassow, ich habe dir von ihm erzählt, er ist mein Arbeitskollege. Es gibt Rosi und Rossi, aber sie sind... sie sind total kindisch, verstehst du? Ehrlich gesagt, haben sie von nichts eine Ahnung. Sie leben auf einem zu guten Planeten. Ich würde auch gern so sein, aber ich kann nicht, ich bin schon geboren worden. Du aber bist anders, du verstehst mich, das spüre ich.«
    Lion sagte kein Wort.
    »Und dann habe ich auch noch eine Dummheit gemacht...«, flüsterte ich, »eine fürchterliche, idiotische Dummheit.«
    Ich hob meine rechte Hand und zeigte Lion die Schlange, die sich darumwand. Als ob ich eine Äußerung erwartete.
    »Sie werden es herausfinden«, meinte ich, weil ich dessen auf einmal sicher war, »sie werden es herausfinden. Früher oder später werden sie alles herausfinden. Und dann bleibt mir niemand mehr übrig. Stasj wird nicht einmal mehr mit mir reden wollen. Und entlassen werde ich auch. Lion, streng dich bitte an! Versuch, schneller wieder auf die Beine zu kommen! Vielleicht fällt uns beiden gemeinsam etwas ein.«
    Lion schwieg.
    »Leg dich hin«, bat ich, »leg dich hin, schlaf noch ein wenig, wenn du willst. Wir werden heute Rosi und Rossi besuchen und zusammen spielen. Du hast doch nichts dagegen, sie ärgern dich doch nicht etwa?«
    »Sie ärgern mich nicht«, antwortete Lion, weil er meine Worte als richtige Frage verstanden hatte.
    Ich zog seine Decke zurecht und lief ins Wohnzimmer. Ich stellte den Fernseher an und zog die Füße auf den Sessel.
    Im Wohnzimmer war es wärmer.
    Was sollte ich jetzt nur tun?
    Die Schlange an meinem Arm hob den Kopf, als ob sie herausfinden wollte, aus welcher Richtung Gefahr drohte.
    »Wenn du wenigstens weg wärst!«, sagte ich durch meine Tränen. Zu Rosi und Rossi gingen wir nicht.
    Rossi rief gegen acht Uhr an. Wenn er gewusst hätte, dass ich schon um fünf Uhr morgens wach war, hätte er auch um fünf angerufen.
    »Tikkirej, wir haben eine Idee!«, legte er los, ohne Guten Tag zu sagen.
    »Ich bin mit allem einverstanden«, erwiderte ich. Ich hatte keine Lust mehr, vor dem Fernseher zu sitzen.
    Rossi kicherte. »Vater hat uns das Auto gegeben! Wollen wir in den Wald fahren und picknicken?«
    »Hast du etwa die Fahrerlaubnis?«, wunderte ich mich.
    »Ich nicht«, meinte Rossi sauer. »Rosi kann fahren, sie hat die Fahrerlaubnis. Aber eine eingeschränkte, nur in Begleitung eines

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