Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schlangenschwert

Das Schlangenschwert

Titel: Das Schlangenschwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
Vom Netzwerk:
erwartet? Dass sich Rossi in sein Zimmer einschlösse und grübelte, was er für ein Versager wäre? Oder dass seine Eltern nicht mehr mit ihm sprächen oder ihm die Süßigkeiten entzögen und ihn nicht mehr draußen spielen ließen? Wollte ich das etwa? Kommen und erklären: »Es ist alles in Ordnung, es ist nichts passiert, das kann vorkommen...«
    Nein.
    Oder hatte ich mir vielleicht doch gerade das ausgemalt?
    »Ich ergebe mich!«, rief William. Er hob den Kopf – und hielt inne, als er mich sah. Ich erstarrte. Jetzt zu gehen wäre unklug gewesen. Blitzschnell wandte William seinen Blick von mir ab und wandte sich an Rossi, als ob nichts geschehen wäre:
    »Hör mal, du hast Mutter versprochen, ihr zu helfen.«
    »Aber...«, murrte Rossi, erhob sich und rieb seine rot gefrorenen Handflächen aneinander. »Wir haben doch noch nicht alles geräumt...«
    »Rossi!«, William stand auf und klopfte den Schnee von seinem Sohn. »Erstens hast du es versprochen und zweitens bist du schon ganz durchgefroren. Ich räume den Rest selber weg.«
    Rossi diskutierte nicht weiter. Unlustig schlenderte er zum Haus, ohne sich umzusehen und mich zu bemerken.
    Ich stand da und wartete.
    William kam zu mir: »Guten Morgen, Tikkirej!«
    »Guten Tag, William!«, grüßte ich.
    William nickte und rieb nachdenklich seine Wange:
    »Ja, stimmt. Es ist schon Tag... Ich habe Rossi vorerst weggeschickt. Du hast doch nichts dagegen?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Komm mit!«
    Er legte seine schwere, feste Hand auf meine Schulter. Wir gingen in ein kleines Gartenhäuschen und setzten uns. Die Bänke dort waren warm, es war angenehm, auf ihnen zu sitzen.
    »Alles ist ziemlich unglücklich, sehr unglücklich gelaufen.« William schüttelte den Kopf. Nachdenklich holte er ein Zigarrenetui aus der Tasche, nahm einen dünnen Zigarillo heraus und zündete ihn an. »Weißt du, Tikkirej, ich war davon überzeugt, dass ich der Erziehung meiner Kinder ausreichend Zeit widme...«
    »Machen Sie sich keine Sorgen«, meinte ich. »Rossi war erschrocken. Das ist doch nicht ungewöhnlich! Es ist ja auch wirklich schrecklich, wenn das Eis bricht.«
    William widersprach: »Nein, Tikkirej, du musst mich nicht besänftigen! Das ist meine eigene Verfehlung! Ich habe mich zu sehr meiner Arbeit, meinem Künstlerleben, meiner sozialen Verantwortlichkeit hingegeben. Das ist übrigens eine verbreitete Unzulänglichkeit auf unserem Planeten, Tikkirej. Uns geht es einfach zu gut!«
    Er begeisterte sich an jedem Wort, so, als ob er einen Artikel schreiben würde, der ihm gut aus der Feder floss.
    »Es ist nicht einmal so, dass Rossi und Rosi schlecht erzogen wären, Tikkirej. Es stimmt, teilweise habe ich ihre Erziehung der Schule überlassen und gedacht, dass Literatur, Theater, Fernsehen ihnen die richtige Lebenseinstellung vermitteln würden. Aber ich habe das Wichtigste vergessen! Ihnen fehlt emotionale Wärme, das Gefühl von Liebe und Geborgenheit. Daher kommt auch dieser peinliche Ausbruch von Feigheit. Seelische Härte...« William machte eine resignierende Handbewegung und ein Stück fester, grauer Asche fiel auf den mit Schnee bedeckten Boden des Gartenhäuschens.
    »Es ist aber doch nichts passiert«, wandte ich unsicher ein. »Rossi hat einen Fehler gemacht und er ist sich darüber im Klaren.«
    »Danke«, erwiderte William und drückte mir fest auf Erwachsenenart die Hand. »Du bist ein sehr verantwortungsvoller und charakterstarker junger Mensch. Ich habe lange über den Vorfall nachgedacht, die ganze Nacht. Und Rossi hat sich große Vorwürfe gemacht. Er ist gerade erst vor wenigen Minuten aufgetaut und wieder fröhlich geworden.«
    Ich nickte.
    »Ich habe jetzt eine schwierige Aufgabe zu lösen«, fuhr William fort, »nämlich das Verhaltensmuster der Kinder zu korrigieren, negative Tendenzen zu bekämpfen, ohne dabei ihre Seele zu verletzen und pubertäre Protestreaktionen hervorzurufen. Und ich würde dich daher gern um Hilfe bitten.«
    »Ich bin ja auch deswegen gekommen...«
    »Tikkirej, ich will dir einen ungewöhnlichen Vorschlag machen«, erklärte William, »du musst dich darüber nicht wundern. Hör mir bitte zu und unterbrich mich nicht!«
    Ich nickte erneut.
    William umarmte mich. »Du bist zwar ein Altersgenosse meiner Kinder, aber entschieden gereifter«, begann William. »Das, was du erlebt hast, die Tragödie deiner Eltern, diese schrecklichen Ereignisse auf Neu-Kuweit, du bist doch im letzten Augenblick evakuiert worden? – Nein,

Weitere Kostenlose Bücher