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Das Schlitzohr

Das Schlitzohr

Titel: Das Schlitzohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Schöchle
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englischen
Kenntnisse vervollständigen sollte. Im Deutschen meinte er, wäre ich ja sehr
gut. (Ich brillierte bei diesem Besuch mit den Weisheiten, die ich als
Ziegelbrenner bei Ladendorf aufgelesen hatte.) Da ich in den
Naturwissenschaften immer sehr gut war und auch in Weihenstephan einiges
mitbekommen hatte, fehlte mir eigentlich nur noch Mathematik. Diese brachte mir
besagter Primus der sechsten Klasse bei. Er empfand das sogar noch als
Auszeichnung. Der Philologe erwies sich als eine glänzend begabte, aber überaus
leichte Haut, den seine krankhaft fromme Familie zwingen wollte, Pfarrer zu
werden. Nachdem er ihnen seine erste Vaterschaft gestanden hatte, hatten sie
diesen Versuch endgültig aufgegeben. Mit ihm paukte ich in den Weihnachtsferien
Französisch und Englisch. Mitte Januar mußte ich mich auf die Abschlußprüfung
für den niederen Lehrgang vorbereiten. Zu meinem Erstaunen fiel das Zeugnis weit
besser aus, als ich erwartet hatte, ja ich lag weit vorne etwa an achter Stelle
bei 80 Kandidaten. Trotzdem war mir mitgeteilt worden, daß ich im Hinblick auf
die Genehmigung des Kultusministeriums zur Teilnahme an der Abschlußprüfung der
Klasse 6 der Realschule in Freising nur als Hospitant im höheren Lehrgang der
höheren Fachschule verbleiben könne, bis das Ergebnis der Prüfung vorliegt. Das
war eine ziemliche Unfreundlichkeit, denn etwa 70 % der Kandidaten hatten
wesentlich schlechtere Noten als ich und wurden anstandslos übernommen. Ich
erhob keinen Einspruch, weil ich sofort den Vorteil erkannte. Als Hospitant
hatte ich zwar keine Rechte, aber auch keine Pflichten. Das heißt, daß ich
nicht zu Prüfungen zugelassen wurde, aber auch nicht zum Unterricht erscheinen
mußte. So konnte ich einen Teil der Zeit zur Vorbereitung auf die mittlere
Reifeprüfung verwenden. Im März fand nun diese Prüfung statt, und ich hatte ein
ungewöhnliches Glück. In der schriftlichen Prüfung kamen Themen, die mir lagen
oder bei denen ich richtig getippt hatte, und in der mündlichen Prüfung, die
ich als außerordentlicher Teilnehmer in sämtlichen Fächern ablegen mußte,
konnte ich mit Ausnahme der Sprachen und Mathematik auf meine Spezialgebiete
ausweichen, so daß ich im ganzen einen unwahrscheinlich guten Durchschnitt
erzielte. Die Folge davon war, daß ich in einem Anfall von Größenwahn beschloß,
auch noch die Reifeprüfung abzulegen, allerdings zu einem späteren Zeitpunkt.
Hochgemut knallte ich mein Zeugnis in Weihenstephan auf den Tisch des Hauses,
und aus dem Hospitanten wurde wieder ein ordentlich Studierender.
    Die Überraschung über meinen Erfolg war
überall sehr groß, denn niemand hatte geglaubt, daß ich diese Hürde so leicht
nehmen würde. Meine Eltern waren so stolz, daß mir mein Vater sogar schrieb,
ich könne mir an Ostern einen Cutaway bei einem Schneider in Schussenried
anfertigen lassen. So viel Großzügigkeit war ich gar nicht gewöhnt. Ich ging
ahnungslos zu diesem Schneidermeister, der in einem Dorf bei Schussenried
wohnte. Als ich bei ihm eintraf, erfuhr ich, daß vor kurzem sein Haus
abgebrannt war. Da war mir klar, warum ich den Cut erhalten sollte. Mein Vater
wollte sich durch diesen Auftrag die Ziegellieferung für den Wiederaufbau
sichern. Darauf ahnte ich Böses und mit Recht: Dieser »Stichologe« hatte den
Ruf, der schlechteste Dorfschneider weit und breit zu sein, und sowohl mein
Vater als auch mein Schwager verzichteten freudig darauf, das Opfer seiner
Kunst zu werden. Der Cut geriet entsprechend, der oberste Knopf saß kurz unter
dem Hals und der unterste an den Kniescheiben. Ein modebewußter Vetter empfahl
mir dazu eine silbergraue Seidenweste als den letzten Modeschrei, und so
zögerte ich nicht, als ich ein solches Stück im Schaufenster eines Freisinger
Bekleidungshauses ausgestellt sah. Mit stolzgeschwellter Brust begab ich mich
in dieser Bekleidung zur nächsten Tanzveranstaltung, wo ich offensichtlich viel
Freude erregte und mir die Frage gestellt wurde, ob ich im Freisinger
Klerikalseminar durchgebrannt wäre oder ob ich mich gerade anmelden wolle.
Darauf öffnete ich mein mehr einem geschweiften Bratenrock ähnelndes
Kleidungsstück, auf daß die Spötter von meiner Weste geblendet würden. Statt
dessen feierte mich die ganze Gesellschaft jubelnd als Zirkusdirektor; ich hatte
nämlich noch gar nicht bemerkt, daß eine Seite der Weste total verschossen war.
    Während der Semesterferien hatte ich
Gelegenheit, mich für den unmöglichen Cut zu rächen. Mein Vater

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