Das Schlitzohr
Buchhandlung der Stadt. Ihr Besitzer kaufte die von katholischen
Landpfarrern hinterlassenen Bibliotheken auf, die manchmal neben den frommen
Traktätchen recht interessante Bücher enthielten. Nicht wenig staunten wir, als
wir eines Tages Bände von Karl May in die Umschläge frommer Erbauungsbücher
gebunden fanden. Wir stellten uns mit viel Vergnügen vor, wie dieser
Seelenhirte in seiner Gartenlaube sitzend, mit dem Erbauungsbuch in der Hand
und ob seiner Frömmigkeit bewundert, Karl May las. Leider waren wir so töricht,
den Besitzer auf dieses Kuriosum aufmerksam zu machen, der sich dann weigerte,
es uns zu verkaufen.
Unter diesen Studien- und
Speisegenossen war auch mein Freund Theophrastius, der gleich mir die
Reifeprüfung nachholte. Allerdings hatte er die Aufnahmeprüfung in die neunte
Klasse gemacht. Das machte die Sache wesentlich sicherer, weil der
Jahresdurchschnitt der Noten mitzählte und er höchstens in drei Fächern eine
mündliche Prüfung ablegen mußte. Wer gute schriftliche Arbeiten lieferte, war
als ordentlicher Studierender vom Mündlichen sowieso befreit. Man kann sich
deshalb leicht vorstellen, daß es mir, je näher der Prüfungstermin herankam, um
so ungemütlicher unter dem Chemisett wurde, zumal sich außer mir nach Weihnachten
kein Mensch mehr in meiner Klasse um die Nebenfächer kümmerte, da die Noten
bereits festlagen. Zudem waren einige Nebenfächer bereits in der achten Klasse
ausgelaufen. Da ich von dieser Klasse kein Zeugnis vorlegen konnte, mußte ich
auch in diesen Fächern eine Prüfung beim Abitur ablegen, so daß mir neben den
sechs schriftlichen noch elf mündliche Prüfungen bevorstanden. Ich stürzte mich
deshalb mit einer solchen Entschlossenheit und Ausdauer auf den zu
bewältigenden Stoff, daß ich während der schriftlichen Abitur-Prüfung einen
Nervenzusammenbruch erlitt und restlos versagte.
Nach dieser schriftlichen Prüfung ließ
mich der Oberstudiendirektor kommen, um mir schonend beizubringen, daß ich ein
hoffnungsloser Fall wäre. Er war ein äußerst nobler und mitfühlender Mann, und
es fiel ihm sichtlich schwer, mir die niederschmetternde Mitteilung zu machen.
Sobald aber bei ihm die Gemütsbewegung überhand nahm, hatte er gewisse
Sprachhemmungen. Als er deshalb anfing: »Ha-Habe große Hochachtung, f-fleißig
gewesen, aber tr-treten Sie zurück, tr-treten Sie zurück«, konnte ich nur noch
fragen: »So schlimm?«, was mit einem monumentalen »F-Furchtbar!« beantwortet
wurde. Inzwischen hatte ich meine Fassung wiedergewonnen und erkundigte mich
noch nach den Vorteilen eines Rücktritts. Er erhob immer noch unter dem
Eindruck der Schreckensbotschaft Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und
erklärte: »Dann können Sie noch z-zweimal.« Ich witterte irgendwie Morgenluft
oder war auf dem totalen Wurstigkeitsstandpunkt angelangt; auf alle Fälle
erklärte ich ihm, daß mein Vater sicher nicht noch zwei weitere Anläufe
finanzieren würde. Deshalb könnte ich, wenn ich weitermachte, nur noch
gewinnen. Wenn er meine Argumente auch nicht ganz einsah, schloß er die
Unterhaltung doch mit den Worten »alle Achtung«. Mir kamen sie vor wie
Frundbergs Worte an Luther: »Mönchlein, Mönchlein du gehst einen schweren
Gang.« Und ein schwerer Gang ist es geworden.
Am Tag der mündlichen Prüfung war ich
im Gegensatz zu den Tagen der schriftlichen Prüfung vollkommen unbeschwert und
von einem starken kämpferischen Geist erfüllt. Auf die kniffligsten Fragen
wußte ich eine einigermaßen befriedigende Antwort. An den immer schwerer
werdenden Fragen spürte ich, daß ich auf Ausgleich der Minuspunkte des Schriftlichen
geprüft wurde, und so war ich dann auch am Ende der festen Überzeugung,
bestanden zu haben.
Als nach der Zeugniskonferenz der
Pedell erschien, um mitzuteilen, wer an der Zeugnisverkündigung nicht
teilzunehmen braucht, wurde mein Name nicht genannt, und ich betrat frohlockend
den Konferenzsaal. Daß ich mich dabei in der vordersten Reihe befand, war kein
Zufall. Das Ergebnis wurde uns in alphabetischer Reihenfolge unserer Namen
mitgeteilt. Als hinter Schmid gleich Schüler und dann Sonntag kam, zog ich mich
in die hinterste Reihe zurück, von wo aus ich den Oberstudiendirektor mit
traurigen Augen ansah. Kaum hatte dieser jedoch auf meinen Blick eine
beruhigende Handbewegung gemacht, befand ich mich wieder auf dem Vormarsch. Als
dann der die Reifeprüfung überwachende Vertreter das Wort ergriff und mich ob
meiner heute gezeigten Leistung
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